laut.de-Biographie
Keith Jarrett
Wie es sich für ein Musikgenie gehört, griff der kleine Keith schon im Alter von drei Jahren in die Klaviertasten, um nur vier Jahre später nicht nur eigene Stücke zu komponieren, sondern auch schon erste Improvisationen zu spielen.
Bevor er 1965 in den "Big Apple" zog, studierte Jarrett ein Jahr am Berklee College of Music in Boston, wo er auch die Arbeit mit seinem ersten Trio aufnahm. Im berühmt berüchtigten Village Vanguard im New Yorker-Stadtteil Greenwich Village gab Jarrett ein Konzert und kein geringerer als Art Blakey war unter den Zuschauern. Begeistert vom Talent des Pianisten holte Blakey den jungen Jarrett in seine Combo und half diesem, sich in der Jazz-Szene zu etablieren.
Durch den Wechsel zum Charles Loyed Quartet im Jahr 1966 betrat er die internationale Bühne. Schon drei Jahre später wurde Pianist Jarrett in Miles Davis' Fusion-Gruppe berufen. Hierbei begab sich Jarrett auf instrumentales Neuland, musste er doch in der Band elektronische Orgel spielen. Dass mit Chick Corea ein zweiter Tastenkünstler am elektrischen Klavier mit von der Partie war, machte es noch interessanter: In den "Piano-Battles" zwischen Corea und Jarrett zeigten beide das ungeheure Potential, dass in ihnen steckte. Neben diesen "Verpflichtungen" widmete er sich seit 1970 vorrangig eigenen Projekten.
1972 spielte Jarrett die ersten Solokonzerte, deren Programm für die Zuschauer ungewohnt war, aber zugleich etwas Neues boten, spielte er doch "nur" zwei 30- bis 45-minütige Improvisationen. Sein virtuoses Spiel voller Magie und Leidenschaft begeisterte die Zuhörer und führte ihn zum Höhepunkt seiner Karriere: Die Konzertaufnahmen in Bremen und Lausanne (1973) erschienen als Set mit drei Platten und zeigen in beeindruckender Weise das außergewöhnliche Improvisationstalent Jarretts. Fasziniert von dem Musiker veröffentlichte Manfred Eicher vom Label ECM drei Jahre später auf zehn Platten die kompletten Konzertmitschnitte von Jarretts Auftritten 1976 in Japan. Ein Jahr zuvor hatte er in Köln für einen weiteren Meilenstein in seiner Musiklaufbahn gesorgt. "The Köln Concert" ist mit seinen vier Millionen verkauften Exemplaren eine der meist verkauften Jazz-Platten aller Zeiten.
Seine Solokonzerte sind herausragend, da er während eines einzigen Auftritts verschiedene Elemente und Stile in seinen Improvisationen verarbeitet. Er kombiniert Gospel-Elemente, melodische Balladen und auch Rock'n'Roll, seine freien Improvisationen sind losgelöst von Rhythmus und Tonart. Doch er hat nicht nur wie kein anderer den Solo-Piano-Jazz geprägt, sondern ist auch Pionier im Jazz-Rock und hat sich eingehend mit Cocktail Jazz (während seines Boston-Aufenthalts), Mainstream, Hard Bop und Avantgarde beschäftigt.
In dieser Zeit war er auch Bandleader zweier Combos, einer mit Charlie Haden, Dewey Redman und Paul Motian und der anderen - einer europäischen - mit Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christensen. Letztere Gruppe, der ECM-Produzent Eicher den Namen Belonging gab, war mehr Mainstream als das amerikanische Quartet.
Anfang der 80er Jahre führte seine Vorliebe für akustische Instrumente dazu, dass er sich aber auch klassischer Musik widmete. Den Anfang machte die ECM-Aufnahme "Das Wohltemperierte Klavier Buch 1", auf das noch viele weitere Klassikproduktionen folgten. Jarrett, der bei klassischen Konzerten mit Musikern wie Ashkenazy oder Christopfer Hogwood auftrat, feierte mit diesen Klassik-Werken besondere Premieren. So wurde "Celestial Hawk" 1980 in der Carnegie Hall und "Sonata For Violin And Piano" 1985 in Tokyo zum ersten Mal aufgeführt. Namhafte Orchester begleiteten ihn dabei, so zum Bespiel das American Composers Orchestra oder das Beethovenhalle Orchestra Bonn. Die 1989 aufgenommenen "Goldberg Variationen" (Johann Sebastian Bach) werden allerdings kritisch betrachtet, da Jarrett das für dieses Stück leichter zu spielende Cembalo dem Klavier vorgezogen hat.
Neben klassischer Musik konzentrierte sich Jarrett aber auch auf sein Standards-Trio mit Gary Peacock (b) und Jack DeJohnette (dr). Die Musiker, die sich schon seit langem kannten, spielten zahlreiche Alben ein, wobei "Live At The Blue Note" sicher zu den Glanzleistungen dieses Trios gehört: Das komplette Programm eines dreitägigen Engagements im New Yorker Club wurden auf sechs Platten veröffentlicht. Fans und Krititker sprachen spätestens nach diesem Auftritt von Jarrett als dem besten Pianisten aller Zeiten.
Doch 1996 zwang dann ein chronisches Erschöpfungsleiden den Multiinstrumentalisten, der neben Klavier und Cembalo auch elektrische Orgel, Sopran-Saxophon, Schlagzeug, Gitarre, Trompete, Flöten und Marimba spielt, seine musikalische Arbeit für einen längeren Zeitraum einzustellen. Wie auch Jazz-Gitarrist Pat Martino, der durch einen Gehirnschaden das Gitarrenspielen völlig verlernt hatte, musste auch Jarrett sein Klavierspiel wieder neu lernen. In einem Interview mit der FAZ sagte er, dass sich durch diese Krankheit sein Spiel völlig verändert habe. Seine Schaffenskraft scheint allerdings ungebrochen: Er möchte etwas Neues im Jazz schaffen. Das beweist schon eindrucksvoll das 1999 veröffentlichte Album "The Melody, At Night, With You".
Anfang 2003 widerfährt Keith Jarrett eine ganz besondere Ehre. Die Schwedische Akademie für Musik verleiht ihm den 'Polar Prize' 2003 für populäre und klassische Musik, den sich bislang die größten Musiker wie Bob Dylan und Isaac Stern oder Elton John und Mstislaw Rostropowitsch stets teilen mussten. Zwei Jahre später erscheint mit "Radiance" eine Art solistische Quintessenz seines bisherigen Schaffens. Er und sein Flügel bescheren der Welt eine musik-biografische Reise zwischen klassischer und swingender Phrasierung, die den zauberhaften Reichtum seines Spiels offenbart.
Es ist das Jahr seines 60. Geburtstags (geboren am 8. Mai 1945). "Radiance" ist die erste Solo-Platte Jarretts seit den "La Scala"-Aufnahmen von 1995. "Ein Solokonzert ist wie eine andere Welt mit anderen Regeln, die ich nicht aufgestellt habe", beschreibt Jarrett das unmittelbar mit seiner Person verbundene Genre. Gleichzeitig mit "Radiance" erscheint die Dokumentation "Keith Jarrett & The Art Of Improvisation" und eine Neuauflage seines Buches "Scattered Words".
Mit "The Carnegie Hall Concert" setzt er die Reihe seiner Soloveröffentlichungen 2006 fort. Im Gegensatz zu seinen früheren Improvisationen, die schon mal 40 Minuten dauerten, scheint die neue Devise 'In der Kürze liegt die Würze' zu lauten. Mit kurzen Boogie-Woogie-, Gospel-, Blues-, Funk- und Countrystücken, die von elegischen Hymnen, freitonalen Passagen und klassisch inspirierten Impressionen eingerahmt werden, hinterlässt er der Nachwelt sein erstes Solokonzert auf heimischem Boden in zehn Jahren.
"Diesen Konzertmitschnitt habe ich zurückgehalten, bis ich den richtigen Augenblick für gekommen hielt. Er zeigt das Trio von seiner launigsten, melodischsten und dynamischsten Seite. Wenn es im Jazz um Swing, Energie und die schiere Ekstase von Musikern und Hörern geht, dann fällt mir kein anderes Konzert des Trios ein, das diese Qualitäten so vollständig und umfassend zum Ausdruck gebracht hätte", kommentiert Keith Jarrett die 2007er-Veröffentlichung "My Foolish Heart", die einen Auftritt seines seit fast 25 Jahren bestehenden Trios (mit Gary Peacock und Jack DeJohnette) in Montreux dokumentiert.
Ein Jahr später geht Jarretts 30-jährige Ehe in die Brüche. Der Ausnahme-Pianist stürzt sich in seine Arbeit, damit der Schmerz nicht überhand nimmt. Für den späten Herbst 2008 organisiert er kurzfristig zwei Solokonzerte, die in Paris und London über die Bühne gehen. Sie erscheinen 2009 in der CD-Box "Paris / London - Testament" und geben ein breites Spektrum von Jarretts Improvisationskunst wieder. Zuvor erscheint im Januar des selben Jahres das Album "Yesterdays", das ein weiteres Trio-Konzert enthält.
2013 bringt Jarrett ein für seine Verhältnisse ungewöhnliches Werk heraus. Auf "No End" degradiert er sein geliebtes Piano vorübergehend zum Statisten. Stattdessen serviert er Aufnahmen aus dem Jahr 1986, bei denen er zu Gitarre, Bass, Drums und einigem mehr als Einmannband auftrumpft. Der Qualität seiner einzigartigen Musik tut das - wie immer keinen Abbruch.
Im Frühjahr 2018 erleidet Keith Jarrett zwei Schlaganfälle im Abstand von nur drei Monaten. Danach ist seine linke Körperhälfte gelähmt: um das Gehen auch nur einigermaßen wieder zu lernen, braucht er ein ganzes Jahr. Konzerte wird er wohl nie wieder geben können, erzählt Jarrett in einem Interview mit der New York Times im Oktober 2020. Dafür erscheint mit dem "Budapest Concert" noch im selben Monat ein Mitschnitt von seiner Europa-Tournee 2016, der gleichermaßen berauschend wie überwältigend klingt. Das Konzert bezeichnet der Ausnahmepianist selbst als "Goldstandard", an dem sich all seine bisherigen Solo-Auftritte zu messen hätten.
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