laut.de-Kritik
Mit TikTok-Hype im Rücken zurück zu alter Stärke.
Review von Michael SchuhVier hervorragende Studioalben in den Nullerjahren, eine Welttournee als Nine Inch Nails-Support und Kultstatus in Großbritannien, Kalifornien und Südamerika: Eine Bilanz, von der viele Bands träumen. Bei Ladytron allerdings mit dem bitteren Beigeschmack verbunden, dass alles noch viel größer hätte ausfallen können, wurde ihre Musik doch von zahlreichen Labels unter Wert verkauft. Von der Peergroup geliebt, von der Masse missachtet.
2012 kommt ihnen dann das Leben dazwischen. Sängerin Mira Aroyo wird Mutter, Kollegin Helen Marnie startet eine Solokarriere, Keyboarder Daniel Hunt bietet seine Produzentenkenntnisse an und Kollege Reuben Wu wechselt ins Fotografie-Fach. Ladytron sind weg von der Bildfläche und müssen mit ansehen, wie sich im Folgejahr die alten Weggefährten von Phoenix als Headliner beim Coachella Festival feiern lassen. Das ist lange her, dieses Jahr heißen die Zugpferde dort Blackpink und Bad Bunny.
Dafür verbreitet sich Musik heute ganz anders. 2021 explodiert plötzlich der Bandaccount in sämtlichen Streamingdiensten. Natürlich nicht, weil endlich mal eine neue Ladytron-Single verdientermaßen einschlagen würde. Der 19 Jahre alte Song "Seventeen" von "Light & Magic" geht auf TikTok viral. Die aktuellen Label-Verantwortlichen bei Cooking Vinyl kontaktieren begeistert die Band, man müsse jetzt auf diesen Zug aufspringen und die Kids direkt auf TikTok ansprechen. "Wir haben höflich abgelehnt. Das passt nicht zu uns. Wir sehen dieser Sache lieber von außen zu und lassen sie sich selbst entwickeln", so Marnie mit der distanzierten Strenge, die seit jeher ihr visuelles Erscheinungsbild prägt. Das uniformierte Auftreten à la Kraftwerk kam ihnen im Indie-geprägten Jahrzehnt auch nicht sehr zugute.
Daher ist jeder Hype willkommen, denn Ladytron spielen wieder auf hohem Niveau. Wollte beim stilistisch sehr sprunghaften "Ladytron"-Vorgänger 2019 nur teilweise Stimmung aufkommen, ist "Time's Arrow" aus einem Guss geraten. Über den Einfluss des unerwarteten TikTok-Hits darf spekuliert werden, auffallend ist, dass der Geist des auf Analogsynth-Brillanz polierten Klassikers "Seventeen" sich nun verstärkt zeigt, etwa im Vorzeige-Hit "Faces". Ohnehin hat das coronabedingte Abschotten bei der Band das Verlangen nach mehr Optimismus geweckt, was den Songs sehr zugute kommt.
Soziale Verbindungen, gemeinsame Erlebnisse, Zukunftshoffnung und die Schönheit des Augenblicks verweben Ladytron in ihrem wieder entschlackten Electronic-Template. Offensiv starten sie mit "City Of Angels" und "Faces", die gleich klarmachen, warum man unnötige Muskelspiele wie zuletzt die Verpflichtung des Sepultura-Drummers Igor Cavalera 2023 nicht nötig hat.
Dafür spielen sie ihre Trademarks, kristallklare Analog-Sounds, 80s-Romantik und der elfenhafte Wechselgesang von Marnie und Aroyo, voll aus. Das verwunschene "Misery Remember Me" mit My Bloody Valentine-Vibes geht über in das von Aroyo gesungene "Flight From Angkor", einem ihrer klassisch runtergekühlen Experimente à la Tubeway Army-Numan. In der Nightlife-Ode "The Night" fordert uns Marnie sogar auf, den Dancefloor zu stürmen.
Im Unterschied zu früher klingen Ladytrons Sci-Fi-Tracks insgesamt wärmer, was besonders bei den ruhigen Songs auffällt. Etwa im fantastischen, mit Lynch-Grusel gespickten "Sargasso Sea", in dem der Doppelgesang als weitere Soundfarbe benutzt wird, und dem Gothic-artigen "California". Der enormen Strahlkraft dieses Doppelpacks kann der abschließende Titeltrack nichts mehr hinzufügen.
Dass die vier Musiker*innen seit Jahren räumlich extrem getrennt voneinander leben (Schottland, England, USA, Brasilien) hat dem siebten Ladytron-Studioalbum jedenfalls nicht geschadet, im Gegenteil. Man hört keinem einzigen Song an, dass er zunächst von einer Person zuhause erdacht und erst später gemeinschaftlich im Viererverbund zu Ende komponiert wurde.
2 Kommentare mit einer Antwort
Die selbstbetitelte Platte hatte ein ziemlich rockiges, roadtripartiges Feeling, das ich liebe. Die hier ist leider ziemlich langweilig.
Geht mir genauso. Wobei Witching Hour auch sehr stark ist. "Destroy everything you touch" ist mega.
Ich finde was Ladytron hier abliefern wie immer eigentlich ziemlich korrekt, auch wenn das nicht der gute, alte Electroclash ist, wegen dem ich sie eigentlich höre.
Schade das Miss Kittin & The Hackers neue Platte hier nicht rezensiert wurde