laut.de-Kritik
Mehr Herz als Hertz.
Review von Rinko Heidrich2019 ist das Jahr, in dem die Welt am Abgrund steht und zu einem hässlichen dunklen Ort verkommt. Nein, das ist keine Panikmache, sondern eine grobe Beschreibung des ersten Blade Runner-Films, der sich lose an Phillip C. Dicks Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" orientiert. Der Sound der englischen Synth-Pop-Band Ladytron wäre der perfekte Soundtrack für solch ein dystopisches Szenario: abgründig, mit düsterer Romantik und strenger Präzision. Album Nummer sechs ist schlicht selbtbetitelt, was meistens ein Indikator für Rückbesinnung oder manchmal auch pure Einfallslosigkeit ist.
Es war nicht mal klar, ob die Platte überhaupt erscheint. Erst über eine Crowdfunding-Kampagne auf Pledge Music kam das nötige Geld zusammen. Das ist bitter und auch ungerecht für eine britische Pop-Institution wie Ladytron, die Brian Eno mal als "beste britische Band" bezeichnete. Die Liverpooler wiederum haben sich nach einem Song von dessen Band Roxy Music benannt und hatten schon immer eine große Liebesaffäre mit den 80ern laufen. Immerhin gilt das Debüt "604" als maßgeblicher Einfluss auf das Electroclash-Genre und die Rückbesinnung auf einen reduzierten Synth-Sound.
Das Erscheinungsbild, unter anderem als Vorgruppe von den Nine Inch Nails, ließ einen tatsächlich mitunter zweifeln, ob noch ein echter Mensch hinter der betont emotionslosen Mimik von Sängerin Helen Marnie und ihrer geisterhaften Stimme steckt oder sie der "Voight-Kampff-Test" als Replikant erkannt hätte. Das fiktive Tool aus Blade Runner versucht anhand zahlreicher Fragen, einen Roboter hinter der perfekten Fassade zu enttarnen. Auf "Ladytron" bleiben lediglich 13 Songs, um die Seele unter dem Kunst-Sound zu ergründen.
Im Opener "Until The Fire" ersetzt jedenfalls ein Humanoid aus Fleisch und Blut den Maschinenbeat. Igor Cavalera, der Metal-Fraktion als Sepultura-Gründer bekannt, scheint nach seiner Kollabo mit den belgischen Indiekünstlern von Soulwax erneut Gefallen an Ausflügen auf genrefremdes Terrain zu finden. Der präzise Schlag des Drummers wirkt allerdings so mechanisch, dass der Unterschied zum synthetisch-perfekten Klang aus der Konserve kaum erkennbar ist.
Gar nicht so hart wie von Ladytron selbst angekündigt zeigt sich die durchgängig psychedelische Färbung des Songs, die viel mehr etwas an den warmen Keyboard-Sound von The Doors erinnert. Eine interessante Abwechslung im sonst so stark strukturierten Aufbau der Platte und ihrer starken Orientierung an den 80ern. Fast organisch hört sich das an.
Andere Songs wie "Run" und "Deadzone" sind dagegen harter Industrial. Retro-Futurismus, der aus einem Jahrzehnt stammt, in dem atomares Wettrüsten und eine Mauer in Berlin nicht gerade wie Symbole für eine hoffnungsvolle Zukunft wirkten. Eiseskälte durchzieht diese beiden Songs, fast militärisch der Gesang von Helen, die dämonisch "I'm the wrong girl on the wrong night / Visions haunt my mind, visions haunt my mind" singt.
Ladytron hatten trotz derlei Gothic-angehauchten Clubnummern auch immer ein Faible für die romantischere Seite des Synthie-Pop: "The Island" ist ein Song, für den OMD und Erasure mittlerweile ihre Tantiemen verkaufen würden, nur damit ihnen noch mal so wunderschöner Electro-Pop gelänge. Da kann auch die gegenwärtige Synthwave-Szene noch so sehr nach Video-Soundtrack aus den 80er klingen: Eine derartige Substanz schafft dann doch nur eine erwachsen gewordene Band und kein Einzelgänger mit Homerecording-Equipment. Die New Romantic-Atmosphäre ist dermaßen betörend, dass die düstere Lyric-Prophezeiung "We are the sirens of the apocalypse" fast untergeht. Alarmstufe Neon-Rot im Korridor der Replikanten-Firma.
Leider tauchen neben den starken Songs wieder unnötige Filler wie "Paper Highways" auf, das ohne Ideen vor sich hinrumpelt und vor allem im Refrain an die schlageresken Songs von Hurts erinnert. Der Acid-Kirmes-Sound von "Horroscope" sorgt für Gänsehaut der ganz und gar unguten Art und das ätherisch langweilige "The Mountain" löst sich schon Sekunden nach dem letzten Ton komplett in Luft auf.
Das dennoch sehr solide Comeback-Album verliert dadurch auf Strecke leider an Substanz und hält sich nur mit Routine die Synth-Pop-Verwandtschaft vom Hals. Schade, die Schludrigkeiten gehen fast alle auf das Konto von Bassist Daniel Hunt. Ladytron sind insgesamt trotzdem noch mehr Herz als Hertz und etablieren sich dank wirklich starker Tracks wie "The Island" und "Deadzone" nach siebenjähriger Pause wieder im Musikgeschehen.
5 Kommentare
gefällt. 4/5
Würde auch 4/5 geben, sehr gutes Album.
5/5, und THE MOUNTAIN als langweilig zu bezeichnen, zeugt von kompletter Geschmacklosigkeit - wie natürlich auch "harter Industrial" als Beschreibung von RUN.
Ich hab das Album sehnsüchtig erwartet und es ist großartig geworden!
5/5. Selbst die unscheinbaren Tracks fügen sich nahtlos im Gesamtsound des Albums ein, so dass es einem Roadtrip gleichkommt.