laut.de-Kritik
Ein Stück Hedonismus für alle.
Review von Toni HennigDer ein oder andere mag sich noch erinnern: Um die Jahrtausendwende handelten viele Kritiker und Musikhörer reinste Kraftwerk- und New Wave-Klänge in Kombination mit unterkühlten Vocals als das Ding der Stunde. Dieser Soundästhetik frönte das Liverpooler Quartett Ladytron auf seinem im Februar 2001 veröffentlichten Debüt "604" so hemmungslos, dass Ende des selben Jahres der New Yorker Veranstalter und DJ Larry Tee von einem neuen Revival sprach: Electroclash. Das zeigte sich jedoch alles andere als begeistert und lehnte diese Bezeichnung ab. Trotzdem verbindet man das Album mit dieser nicht unbedingt langlebigen Modeerscheinung wie kaum ein Zweites.
Nicht ganz unschuldig daran war sicherlich der Hit "Playgirl", der zu dieser Zeit vor niemanden Halt machte. Der erschien schon im Dezember 1999 auf der EP "Miss Black And Her Friends" und im Juni 2000 separat als Single.
In der Nummer hörte man die Synthies der beiden männlichen Klangmagier Daniel Hunt und Reuben Wu in bester Human League-Tradition ebenso kühl wie elegant erklingen. Darüber legte Helen Marnie ihre verführerischen Vocals von "zügelloser Femininität", wie es mal in der Review des Internet-Musik-Magazins Drowned In Sound hieß. Bei aller Retro-Versessenheit hatte der Track jedoch immer etwas Cooles und Stylishes. Aus diesem Grunde lässt er sich exemplarisch für den musikalischen Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert anführen.
Am besten klang er immer dann, wenn sich die Synthies nach der Mitte kurzzeitig zurückzogen, um in eine euphorische Steigerung überzugehen, die kaum ein Bein still stehen ließ. Das rockte, ohne peinliche und aufgeblasene Rock-Klischees zu bedienen. So eignete sich das Stück nicht nur für die Indie-Disco, sondern auch für Electro-Partys, für die Festival-Bühnen oder für das Dorffest von nebenan. Es bot im Grunde genommen ein Stückchen Hedonismus für alle. Dadurch konnten sich die Unterschiede zwischen alternativer Musik und Pop zunehmend auflösen.
Bevor der Song allerdings die Tänzflächen eroberte, werkelten die Hobby-DJs Hunt und Wu seit 1997 zu zweit an ihrem Material. Den Namen Ladytron, den sie sich einer Roxy Music-Nummer aus dem Jahre 1972 entliehen, hatte der Erstgenannte schon länger schick gefunden und als das schottische Model Marnie dazukam und noch die Bulgarin Mira Aroyo zur Probe mitbrachte, hatte man auch eine passende Verwendung für ihn.
Im Anschluss brachte das Quartett bereits vorliegende Skizzen gemeinsam mit Produzent Lance Thomas zur Vollendung und ließ mit "Miss Black And Her Friends" eine Debüt-EP folgen, der sich im Jahr 2000 zwei weitere Kurzformate anschlossen: "Mu-Tron EP" und "Commodore Rock". Ein Großteil der Tracks dieser Veröffentlichungen fasste es dann, erweitert um zusätzliche Stücke, die um die Jahrtausendwende anfielen, zu "604" zusammen.
Trotzdem vermittelt die Aneinanderreihung der einzelnen Nummern einen so gelungenen Eindruck, dass man immer das Gefühl besitzt, einem vollwertigen Album zu lauschen. Wenn man die Umbruchszeit zwischen Ende der 90er und Anfang der 00er nicht bewusst miterlebt hat, weil man zu jung war, bietet die Platte eine hervorragende Gelegenheit, das spezielle Feeling dieser Jahre zu ergründen.
Die beginnt zwar mit dem scheppernden Instrumental "Mu-Tron" recht unspektakulär, aber wenn man im folgenden "Discotraxx" Disco-Geplucker im Stile Giorgio Moroders, dunkle Gothic-Synthies und Spoken Words in bulgarischer Sprache vernimmt, während Marnie wie eine Eiskönigin über den Track thront, bleibt nicht mehr viel übrig, als sich in die reizvolle Musik der Liverpooler zu verlieben. Die geizt auch im weiteren Verlauf nicht mit den unterschiedlichsten Verweisen auf die popmusikalische Übergangszeit Ende der 70er bis Anfang der 80er.
Bestes Beispiel: "He Took Her To A Movie", für dessen Hook und Melodie sich die Band von Kraftwerks "Das Model" inspirieren ließ. Insgesamt investierte sie für das von minimalistischen Drum- und Orgel-Rhythmen geprägte Stück Mitte 1998 nicht mehr als 50 Pfund. Dafür veredelte es Gastvokalistin Lisa Eriksson von Techno Squirrels mit roboterhaften Vocals, so dass eine liebevolle Hommage an die Düsseldorfer Elektronik-Pioniere entstand.
Als noch reduzierter erweist sich das Instrumental "CSKA Sofia", wenn man im Elektronik-Nebel immer wieder eine mysteriöse Orgel vernimmt, die direkt einem Young Marble Giants-Track entsprungen sein könnte. Diese DIY-Attitüde zieht sich ebenso durch die restlichen Songs. Dadurch strahlt "604" immer noch eine Menge authentischen und unverbrauchten Charme aus. Rockige Momente kommen nicht zu kurz, wie "Commodore Rock" untermauert. Dort laden nämlich peitschende Rhythmen und aggressive Spoken Words auf Bulgarisch zum Bangen ein, während sich über die Nummer die wohl eisigsten Synthies seit dem Frühwerk Gary Numans legen.
Dennoch fokussieren sich die Briten mehr auf einnehmende Melodien, ohne das Tanzbare zu vernachlässigen. Als Musterbeispiel dient "The Way That I Found You", das zu auf- und abschwellenden Synthies und schnurgeraden Handclaps mit einer unverschämt catchigen Hook aufwartet, die Marnie mit dem süßesten Gesang veredelt, den die Platte zu bieten hat.
Dagegen wirkt "Ladybird" zunächst unscheinbar, doch wenn sich der Refrain, der von unterschwelligen nächtlichen Synthies und Marnies glasklarer Stimme lebt, einmal im Gehirn festgesetzt hat, kann man sich dem melancholischen Touch dieses Tracks nicht mehr entziehen. Dadurch überstrahlt er sogar "Playgirl".
Dementsprechend sollte man Ladytron nicht nur auf diesen einen Hit reduzieren und schon gar nicht auf Electroclash, stellen sie doch eine der wenigen Bands dar, die es geschafft haben, diese Modeerscheinung ohne Schaden zu überstehen.
Ihre Musik verfeinerten die Liverpooler nämlich stets um zusätzliche Elemente wie Industrial oder treibendem Krautrock, ohne ihre melodischen und klanglichen Trademarks aus den Augen zu verlieren. Dadurch fällt sie auch heute noch für Indies genauso interessant aus wie für Pop-Hörer. Nur dieses gleichermaßen Ungeschliffene wie Glamouröse legte kein Ladytron-Album nach "604" mehr an den Tag.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare
Genau der Scheiss auf den ich jetzt Bock hab‘!
Danke fürs „in Erinnerung rufen“ die Wahl geht klar, bevorzuge aber die Best of.
ich habe echt 100 jahre gebraucht, mich mal ernsthaft mit denen zu beschäftigen. völlig unentschuldbar, ich weiß. aber besser spät als nie. fazit: großartig!
neben diesem meilenstein sollte man ihr mutiges und höchst gelungenes cover von "little black angel" nicht vergessen. das original ist womöglich das beste neofolk/gothic folk-stück aller zeiten. auch wenn man den katalog von old douglas p ansonsten mit vorsicht genießen muss. was für eine perfekte melodie!
was ladytron daraus für eine frische wavepop-hymne strickten, nötigt respekt ab.
sehr schön ist auch der remix, bei dem ladytron es im duett mit douglas bringen.
https://www.youtube.com/watch?v=jGAzxmEay4U