laut.de-Kritik

Wilson und Åkerfeldt öffnen die Schleusen der Wahrnehmung.

Review von

Die Musikwelt ist im Wandel. Vieles was einst war, ist verloren. Metal hingegen ist in den Augen vieler noch immer das Schmuddelkind unter den Genres. Erst recht, wenn man noch die Wörter Death oder Black davor packt, denken nicht wenige wahlweise an grenzdebile Kutten-Töffel mit geistiger Bierplauze oder an faschistoide Flachzangen die den Gehörnten anbeten oder einem tumben Führerkult erliegen. Um dieses hanebüchene Klischee zu unterwandern kommen Opeth! gerade recht.

Mit dem grandiosen "Blackwater Park" erschaffen sie anno 2001 ein Juwel, das für das noch frische Jahrtausend einen ähnlichen kreativen Paukenschlag bedeutet wie Tiamats legendäres "Wildhoney" für die Neunziger. Das fünfte Studio-Album der Stockholmer Truppe um Schöngeist Mikael Åkerfeldt vereint ganz selbstverständlich sinistre Brachialität, Elemente aus Klassik und Progressive Rock und ein Füllhorn nicht enden wollender Melodievielfalt. Alles so nonchalant und spielerisch, dass jeder Gegensatz im bleiernen Keim erstickt.

Die Platte ist eine Zäsur für den Metal und die ohnehin künstlerisch aufgeschlossenen Skandinavier. Kenner mögen einwenden, dass Opeth schon vier Alben lang mit Stilen experimentierten und es doch schon in der vorherigen Dekade wildwuchernde Pfadsucher wie die experimentellen "In The Woods" gab. Doch alles verblasst neben dieser schwarz gewässerten Perfektion in Moll. Alles Vorherige war ein Jagen. Diese Platte hat ihre Beute endlich erlegt. Vom ersten bis zum letzten Ton.

Denn ein einzelner Mann macht den musikalischen Unterschied: das Genie Steven Wilson! Mr Porcupine Tree gibt den Propheten und öffnet den Wikingern nicht nur die Pforte, sondern eine ganze Schleuse der Wahrnehmung. Neuartige Sounds, neuartige Techniken samt komplettem Verzicht auf konventionelles Songwriting machen die Skandinavier von Amateuren zu Herrschern. Am Ende halten sie zehn Tracks in Händen. Ein Diamant, der klingt, als hätte man Orks mit dem Geist Pink Floyds geimpft, mit dem Spirit der Beatles beseelt und lässig noch nebenher einen Altar für Strawinskys "Frühlingsopfer" errichtet.

Das Besondere: In lückenloser Reihenfolge ergeben die Stücke eine Metal-Orgie symphonischen Aufbaus samt ganz und gar eigener Dramaturgie. Gleichwohl funktionieren die einzelnen Songs auch für sich genommen als seltsam funkelnde Edelsteine. Wer dieser Qualität nicht verlustig gehen mag, sollte sich zwingend eine der zahlreichen Editionen zulegen, die nicht auf die unerlässlichen Finalsongs "Still Beneath The Sun" und "Patterns In The Ivy II" verzichtet. Die ursprünglich als Single nebenher ausgekoppelten Tracks haben längst die undankbare Position des Bonustracks verlassen und sind mittlerweile Endpunkte des Blackwater-Zyklus.

Beim Opener "The Leper Affinity" entspringt aus der Mitte eines growlenden Hammer-Und-Meißel-Stakkatos nach ca. vier Minuten ein harmonisches, nahezu maideneskes Gitarrenthema. Getreu den Zeilen "Lost are days of Spring./ You sighted and let me in./ Keep the beast inside" begräbt Åkerfeldt für ein paar Momente das werwölfische Tier in sich. Melodie und Stimme betören gleichermaßen. Doch das Erblühen wärt nicht lange. Keine hundert Sekunden später ist das Biest zurück. "Dein Körper ist mein und steht nur mir zum Gebrauch." Zur Krönung versinkt die zerrissene Kreatur in einem dunklen See dahin tropfender Pianonoten, der alles vorherige zu sich hinab auf Grund zieht.

Zeit für melancholische Versunkenheit bleibt nicht. Das folgende "Bleak" glänzt mit harter, unnachgiebiger Hook. In der Strophe hört man Mikaels klassische Deathgrowls mit hymnischer Eingängigkeit und creepy Hypnosefaktor. Höchst lebendiger Klargesang umschmeichelt hernach das Ohr in einem Netz aus psychedelischem Prog mit akustischen Tupfern. Das warme Arrangement konterkariert die leichenstarrenden Zeilen "Kalte Finger markieren dies sterbend' Wrack./Der Moment gehört mir!". Alle musikalischen Gegensätze vereinen sich alsbald, als seien ihre Seelen nie getrennt gewesen. Gelegentliches vor sich hin Gilmourn ("Harvest") und blitzartige Todesblei-Attacken inklusive.

Das unheilschwanger pulsierende Herz ist sicherlich das monolithische Titelstück. Ein tausendfach gebrochenes Mosaik samt klassisch erdender "Whoa"-Grunzer ist viel mehr als die Summer seiner einzelnen Teile. Allein in diesem Lied finden sich um ein vielfaches mehr inspirierte Ideen als im durchschnittlichen Wacken-Lineup.

Meine persönlichen Lieblingsmomente sind indes die zeitlos in sich ruhenden "Still Beneath The Sun" und "Patterns II". Zwei vollkommen schlichte und geradezu minimalistische Perlen. Åkerfeldts anmutiger Gesang verwandelt sich komplett von "The Beast" zu "The Beauty". Man kann dazu nicht nein sagen. Besonders den Wilson-Jüngern und allen Floydianern sollten diese acht berauschenden Minuten ein wahres Fest sein. Zwei Lieder die weder Halbwertszeit kennen noch totzuhören sind.

Die Komplexität der Platte ist dermaßen hoch - auch nach dem hundertsten Durchlauf und vielen Jahren entdeckt man noch Gimmicks und Gewürze. Eine LP voller Geheimnisse, die sich erst nach und nach offenbaren.

In der von nur wenigen beherrschten Königsdisziplin, Leidenschaft und Spontaneität des höllischen Infernos ohne jeden klanglichen Widerspruch mit totaler Struktur zu binden, haben sich Steven und Mikael gesucht und gefunden. Schon bei dieser ersten Zusammenarbeit spürt man das erstaunlich blinde, zwillingshafte Verständnis beider Ausnahmekünstler. Es soll ihre freundschaftliche Zusammenarbeit in den folgenden Jahren intensivieren und eine gute Dekade später im nicht minder epochalen "Storm Corrosion" seinen zumindest vorläufigen künstlerischen Gipfel erklimmen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. The Leper Affinity
  2. 2. Bleak
  3. 3. Harvest
  4. 4. The Drapery Falls
  5. 5. Dirge For November
  6. 6. The Funeral Portrait
  7. 7. Patterns In The Ivy
  8. 8. Blackwater Park
  9. 9. Still Beneath The Sun
  10. 10. Patterns In The Ivy II

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32 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 11 Jahren

    Warum Metal in sachen Komplexität der klassischen Musik am nächsten kommt...besser kann es dieses Werk hier nicht zeigen. Absolut unantastbare Höchstleistung an den Instrumenten gepaart mit einem Gespühr für Struktur und wunderbare Melodien. Dazu noch eine der krassesten Growlstimme von Mikael, der diese als wäre es das einfachste auf der Welt in eine wunderschön klare Gesangsstimme umschalten kann. Jetzt noch einen der besten Prog-Produzenten mit Herrn Wilson in den Topf geschmissen und man bekommt ein Übermeilenstein.

  • Vor 11 Jahren

    Das Blackwater Park von vielen als das Meisterwerk von Opeth betrachtet wird, kann ich nicht vollkommen verstehen. Ich mag den Sound des Albums nicht so sehr, es klingt irgendwie gedämpft und in Watte gehüllt. Ihren Stil hatten sie für mich erst auf Ghost Reveries perfektioniert, dass einerseits für mich vielseitiger klingt und dennoch bessere, weil kompaktere Songs (in der Gesamtwirkung) hat. Dennoch ein würdiger Meilenstein und eine tolle Rezension.

  • Vor 11 Jahren

    'metal in sachen komplexität der klassischen musik am nächsten kommt' ... kann man nicht so stehen lassen ... erstens gibts in jedem genre musikalisch anspruchsvolle sachen die reich an innere struktur sind ... außerdem is das grad bei opeth eben meiner meinung nicht der fall ... lässt sich in zusammenhang mit bands wie behold...the arctopus sicher weit eher sagen ... hab zugeben opeth nie intressant gefunden genau so wie zb dream theater ... ich meine: respekt vor den leuten als musiker, technisch mächtig was am kasten ... aber kompositorisch nie an der komplexität von klassik, romantik und was noch drauf kommt dran ... das lässt sich zb doch noch eher von der letzten emperor scheibe behaupten ...