laut.de-Kritik

Göttliche Feier des Lebens mit Pauken und Trompeten.

Review von

Ja, Rosalía singt auf "Lux" in 14 verschiedenen Sprachen, unter anderem auch auf Deutsch. Hätten wir diesen für Schlagzeilen sorgenden, aber eigentlich gar nicht so relevanten Fakt direkt abgehakt. Ja, sie hat das Album mit einem Orchester aufgenommen. Diese beiden Tatsachen allein dürften schon dafür gereicht haben, dass sich aktuell gefühlt das gesamte Feuilleton weltweit begeistert mit der spanischen Sängerin auseinandersetzt und sie zur neuen 'Göttin des Pop' krönt.

Ein Orchester-Album von einer in Musikwissenschaft ausgebildeten Sängerin erscheint erstmal gar nicht so abwegig, stellt aber doch eine deutliche Abkehr vom grandiosen "Motomami" dar, ihrem letzten Album, das ihr zum großen internationalen Durchbruch verholfen hatte. Ging es damals visuell noch Wheelies fahrend über die Rennstrecke und leicht bekleidet in den Club, finden wir uns jetzt eher in der Kirche oder der Oper wieder. Nicht im Berghain, auch wenn der Name der ersten Single kurz auf einen Ausflug in Techno-Gefilde vermuten ließ.

"Motomami" strotzte nur so vor Vielfalt, verrückter Ideen und Experimentierfreudigkeit, inklusive tanzbarer und radiotauglicher Hits. Wer dasselbe von "Lux" erwartet, wird enttäuscht. Doch Rosalias viertes Album hat ganz andere Qualitäten: nicht dass sie mit einem Orchester zusammengearbeitet hat, sondern wie, was für großartige Stücke dabei herausgekommen sind und welche Emotionen diese engelsgleiche Stimme begleitet von Pauken und Trompeten hervorruft.

Einen ersten Vorgeschmack auf das Album hatte Rosalía ihren Fans auf ihrem Instagram-Kanal mit einem kurzen Clip geboten, in dem sie sich selbst filmend zu sehen ist, wie sie mit glasigen Augen, aber lächelnd, dem London Symphony Orchester bei der Aufnahme lauscht und dabei einen Rosenkranz in den Mund nimmt. Aufgenommen wurde hier "Sauvignon Blanc", eine von zahlreichen zum Sterben schönen Balladen auf "Lux", zu Deutsch Licht.

Während das Licht hier nur spärlich einzudringen scheint, explodiert an anderer Stelle die Sonne: "This is gonna be the energy, and then..." kündigt Rosalía auf "Mio Cristo Piange Diamanti" (Mein Christus weint Diamanten) den brachialen Schlussakkord an, kurz nachdem sie einen Ton trifft, der vermutlich sämtliche Gläser und Fenster im Aufnahmestudio hat sprengen lassen. Rosalías erster Versuch einer klassischen Arie ist beeindruckend und eines der Highlights ihrer bisherigen Karriere. Die Wahl der Sprache, in diesem Fall Italienisch, wirkt für ein Stück wie dieses passend. Überhaupt ist das Risiko, so viele Sprachen auf einem einzelnen Album zu vereinen, nicht nach hinten los gegangen. Um Rosalías Musik und Emotionen zu fühlen, ist kein Textverständnis nötig.

Über Highlights könnte man bei diesem Album stundenlang sprechen, bewegen sich doch die gesamten knapp 50 Minuten (bzw. 60 Minuten, zählt man die beiden Extra-Tracks der physischen Version mit), auf extrem hohen Niveau. Vermutlich dem höchsten Niveau, das ein Künstler oder eine Künstlerin in diesem Jahr überhaupt bzw. ein Popstar mit Orchester-Ambitionen jemals erreicht hat. Als 'fordernd' wurde das Album an anderer Stelle bereits beschrieben, doch anspruchsvolle Musik muss nicht gleich fordernd oder anstrengend sein. Das wunderbar treibende und energetische "Divinize" zum Beispiel geht schon beim ersten Hören direkt ins Ohr und bleibt dort, so eingängig sind die Melodien.

Ob es nun gefällt oder nicht, gehört hat man so etwas wie das, was Rosalía hier gemeinsam mit ihren Verbündeten, u.a. Noah Goldstein (bekannt durch seine Arbeit für Kanye West, Travis Scott, FKA Twigs etc. und auf allen Tracks als Producer gelistet) fabriziert hat, noch nie: zum Beispiel "Berghain", mit einem Orchester und einem Chor auf Speed, einem spanischer Popstar, der im Stil einer Opernsängerin auf Deutsch von einem Blei-Teddybären singt. Zwischendurch fleht die legendäre Björk, die Rosalía in Interviews als ihre Mutter bezeichnet, um göttlichen Beistand, bevor Yves Tumor dem Stück begleitet von martialischen Trommeln ein ziemlich unerwartetes Ende setzt. Als wäre nichts gewesen, geht es danach mit einem Walzer im Dreivierteltakt auf "La Perla" völlig unbeschwert weiter - was für ein Kontrast!

Befasst man sich mit dem Text dieses Liedes, wirkt es allerdings gar nicht mehr unbeschwert. Er liest sich vielmehr wie eine Abrechnung mit dem Ex: Ist mit "La Perla", der "lokalen Enttäuschung, dem nationalen Herzensbrecher, dem emotionalen Terroristen und der größten Katastrophe der Welt“ womöglich der Sänger Rauw Alejandro gemeint, mit dem sie bis 2023 sogar noch verlobt war? Autobiographisch sei das Album laut Rosalía zwar nicht, dennoch stecken natürlich persönliche Erfahrungen und Inspirationen hinter den Texten.

Musikalische Inspiration, das nur als Randnotiz, hat Rosalía laut eigener Aussage übrigens aus ganz unterschiedlichen Quellen gezogen: darunter Leonard Cohen, Aretha Franklin, Nina Simone, Patti Smith (die sogar einen kleinen Gastbeitrag auf dem Album hat), Johann Sebastian Bach, Gustav Mahler und mehr.

Thematisch dreht sich "Lux" neben der Liebe vor allem um den Glauben, manchmal auch beides gleichzeitig, wie auf "Dios Es Un Stalker". Jeder einzelne Track sei außerdem von der Geschichte einer bestimmten Heiligen inspiriert. Der französischen Zeitung Le Monde verriet Rosalía, dass ihr Album eine Art Tribut an Gott sei: "Ich glaube, ich habe schon immer eine sehr persönliche Verbindung und Beziehung zur Spiritualität und zu Gott gespürt. Ich habe das Gefühl, dass Gott mir so viel gegeben hat, dass ich ihm zumindest ein Album widmen kann. Das ist meine Art, etwas zurückzugeben".

Göttlich wäre wohl auch die treffendste Beschreibung für dieses Album: Wenn man ihrer engelsgleichen Stimme auf "La Yugular" lauscht, wie sie von einer übermenschlichen Liebe singt, in der sie sich verlieren will, dann bringt sie ihre Spiritualität ihrem Publikum so nah wie irgend möglich - ich schätze, ganz gleich, ob man selbst einen Hang zu Religion oder Spiritualität hat. Universelle Relevanz bekommt ihre Lyrik spätestens mit dem Outro, in dem sie das Konzept ihres Todes in eine Feier des Lebens verwandelt. "Tiramé magnolias", fordert sie und ja, gebt ihr all die Magnolien dieser Welt. Sie hat sie verdient, und nicht erst zur Beerdigung.

"Lux" ist viel mehr als ein Album. Es ist das Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung mit sich selbst und mit der eigenen Spiritualität. Es ist eine von den eigenen Idolen und Musen inspirierte Dankesgabe an Gott und eine Feier der Schönheit des Lebens.

Trackliste

  1. 1. Sexo, Violencia y Llantas
  2. 2. Reliquia
  3. 3. Divinize
  4. 4. Porcelana
  5. 5. Mio Cristo Piange Diamanti
  6. 6. Berghain
  7. 7. La Perla
  8. 8. Mundo Nuevo
  9. 9. De Madruga
  10. 10. Dios Es Un Stalker
  11. 11. La Yugular
  12. 12. Focu 'Ranni
  13. 13. Sauvignon Blanc
  14. 14. Jeanne
  15. 15. Novia Robot (Pa Lo Mismo)
  16. 16. La Rumba Del Perdon
  17. 17. Memoria
  18. 18. Magnolias

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9 Kommentare mit 13 Antworten

  • Vor einem Tag

    Musste "Berghain" neulich im Autoradio hören, und hätte die Karre fast vor einen Baum gesetzt, weil ich diese Musik so beschissen prätentiös fand, dass ich nicht mehr konnte. Werde dem Rest aber trotzdem mal ne Chance geben.

    • Vor 23 Stunden

      Dieser Kommentar wurde vor 23 Stunden durch den Autor entfernt.

    • Vor 23 Stunden

      Tatsächlich einer der unerträglich gewolltesten Releases in letzter Zeit. Die Teile des Ganzen sind ja schon wenig (Das Orchester dudelt sinnlos herum, ohne irgendwas beizutragen), und die Summe aus all dem ist noch viel weniger.

      Hab ein ganz mieses Gefühl für den Rest der Platte. Aber für mich isses auch schon ein paar Alben her, dass Rosalía mal wirklich gut war.

    • Vor 23 Stunden

      "einer der unerträglich gewolltesten Releases"

      naja, natürlich wollte sie das releasen, so macht man das als künstler*in.

    • Vor 23 Stunden

      Tja, Fans, Metacritic und Feuilleton sind begeistert. Da geht die Meinung des durchschnittlichen Höhlenuntermieters leider unter.

    • Vor 23 Stunden

      Gib's ihm, c4. Wenn wir eins mittlerweile gelernt haben, dann, dass es Ragi sehr bedeutsam ist, ob seine Meinung dem Feuilleton bzw. den Fans entspricht. Du reibst da wirklich Salz in die offene Wunde, bin stolz auf dich. ;-)

    • Vor 22 Stunden

      Womit er mit dem gemeinen Chemtrailsgläubigen oder AfD-Günther mehr gemein hat, als er denkt.

    • Vor 22 Stunden

      Das retooling deines character arcs ist all over the place, ma sagen. Hast du nicht selbst schon sehr AfD-nah argumentiert? Ich will Kohärenz, verdammt! :mad:

    • Vor 21 Stunden

      Ja, wenn schon Troll, dann richtig. Jetzt ganz plötzlich einen auf Anti-AfD zu machen, ist enttäuschend für Deine Rolle in der toxischen Diskussionskultur, an der ganz laut.de gemeinsam arbeitet >:(

    • Vor 21 Stunden

      Die AfD wird sicher auch demnächst im Feuilleton landen. Vielleicht sogar das einzig richtige, um von ihr so sehr gelangweilt zu werden, dass selbst wir linken keine "Freude" mehr an ihrer Normalität haben. Dann können wir uns endlich wieder dem Raclette zuwenden und die Matrix mal wieder beglückwünschen.

    • Vor 17 Stunden

      Jepp, geht mir irgendwie ähnlich. Hab Berghain als zweiten Titel gehört, weil ich nach dem ersten dachte, dass es das irgendwie nicht sein kann, wenn das hier so gehyped wird. Ist immerhin interessanter als mein erster Versuch (war Porcelana), aber immer noch nichts, was mich begeistert.

  • Vor 22 Stunden

    Musik bei der man sich fragt, wann endlich der deutsche Gegenpol mit Weißwurstgeschlotze, Wutbürgersample, ASMR Sandalettengeschrubbe und festgeklemmter Akkordeontaste auftaucht. Electric Callboy liefern noch den Autotune ab.

  • Vor 4 Stunden

    Man muss sie ganz allgemein ja zumindest dafür loben, dass sie es sich nicht gemütlich macht und viel versucht.

  • Vor 4 Stunden

    Bin großer Rosalia Fan, das Album find ich aber mäßig bislang. Berghain natürlich total unhörbarer prätentiöser Oberschrott. Dass sich das Feuilleton jetzt natürlich überschlägt ist halt auch Zeichen dafür dass die von Musik keine Ahnung haben und versuchen verpasste Wertschätzung der Vorgängeralben wieder reinzuholen und sich als Musikspezis zu profilieren.

    War das gleiche bei Kendrick. Der beste Rapper aller Zeiten wird vom Feuilleton totgeschwiegen. Bis der Zeitgeist es nicht mehr zulässt es zu ignorieren. Dann wurde ausgerechnet sein schwächstes Album Mr Morale überall in den Himmel gelobt und plötzlich als Kendricks Karriere seit Ewigkeiten kein gutes Album mehr brachte waren sie da uns zu erklären was ein Rapgod er sei.

    Bissle peinlich sowas auf ner Musikrezi Seite zu lesen. Wie gesagt bin großer Rosalia Fan, das ist aber eher ne 3/5.

    • Vor einer Stunde

      Ich erinnere mich gut an den Überhype nach Good kid. Danach an den ausrastenden Feuilleton nach To pimp a butterfly. Da hast du wohl einfach einiges nicht mitbekommen.

  • Vor 2 Stunden

    gutes album aber wisst ihr wer auch ein gutes album gebracht hat genau daniel caesar