laut.de-Kritik

Melodische Geschichten von Krieg, Wahnsinn und Junkie-Elend.

Review von

Als Sting ein paar Tage vor seinem umjubelten Wembley-Auftritt beim Live Aid-Konzert seine erste Soloplatte veröffentlicht, war das Erstaunen groß. Fans und Medien erwarteten eine Fortführung des Reggae-/Wave-lastigen Poprocks von The Police. Doch solche Erwartungen enttäuscht Gordon Matthew Thomas Sumner nur allzu gern. "The Dream Of The Blue Turtles" entführt viel lieber den Pop ins Reich des Jazz und erzählt melodische Geschichten von Krieg, Wahnsinn, Junkie-Elend, blauen Reptilien und Blutsaugern. Jedes einzelne Stück ist eine intensive Perle für den ewigen Tower of Song.

"Free, free, set them free!" Mit diesem zeitlosen Meisterwerk im klassischen 10-Song-Format befreit Sting den Jazz aus dem Ghetto nerdiger Hochgestochenheit. Den Pop hingegen bricht er aus dem stetigen Verdacht totaler Seichtheit heraus. Die Instrumente dürfen, vor allem in den Strophen, total uneingeschränkt agieren und die klassische Songstruktur aufmischen. Dadurch entsteht - etwa im Vorzeigetrack "Children's Crusade" ein wahrer Notendschungel, der bei aller Komplexität leicht konsumierbar bleibt und nie verkopft wirkt. Man muss lange überlegen, bis einem überhaupt eine Platte einfällt, die zwar einer strengen Choreographie folgt, diese aber so geschickt verbirgt, dass mitunter der Eindruck spontan gejamter Improvisationen entsteht.

Dem farbenfrohen Treiben setzt Sting sein Händchen für erdende, sehr eingängige Refrains entgegen, die mal als lieblicher, dann wieder als epischer Ohrwurm im Kopf bleiben. Trotz aller Eingängigkeit entreißt er jeden einzelnen Chorus des Albums dem Diktat popkultureller Halbwertszeit. Als Anspieltipp bietet sich besonders "We Work The Black Seam" an. Auch nach 30 Jahren klingt der Kehrreim "One day in a nuclear age they may understand our rage..." noch genau so taufrisch wie am ersten Tag.

Gleiches gilt für die nahezu hypnotische Anziehungskraft der Rhythmen. Seine offensive Kultsingle "If You Love Somebody Set Them Free" erweist sich als energetischer sexy Partyklopper. Die zurückhaltendere, sehr stoische Xylophon-Percussion von Kenny Kirkland in "We Work The Black Seam" klöppelt sich dagegen ebenso sanft wie unerbittlich ins Hirn. Effektiv sind beide gleichermaßen.

Die Qualität der Detailfülle ist alles andere als Zufall. Der Ex-Police-Frontman profitiert extrem von seiner superben Band. Die meisten stammen aus dem Umfeld von Miles Davis, den Sting von frühester Jugend an verehrt. Bassist Darryl Jones (Rolling Stones) hat alles drauf, was Sting zum damaligen Zeitpunkt spielerisch noch fehlt. Während der Sessions macht Jones ihn mit Miles bekannt, was in einer Gastrolle auf dessen im selben Jahr erscheinenden "You're Under Arrest" gipfelt.

Drummer Omar Hakim gurkt zur Entspannung während der Aufnahmen gemeinsam mit Sting zu den Kumpeln Dire Straits und spielt dort nebenbei das halbe "Brothers In Arms" ein, während Mr. Sumner Gastvocals zu deren "Money For Nothing" beisteuert. Die Hauptattraktion auf den "Blue Turtles" bietet jedoch Marsalis' gnadenlos sinnliches Saxophon. Es ist der ultimative Joker auf fast allen Liedern und zieht sich durch dieses Album wie ein glutroter Faden.

Doch Sting wäre kein echter Engländer, gäbe es nicht genug Platz für sympathische Verschrobenheiten. Beim Mann aus dem nach Tolkiens Hobbingen klingenden Örtchen Wallsend ist es sein Hang zu geschickt eingeflochtenen Selbstzitaten. Wer genau hinhört, erkennt auf den letzten Metern des niedlichen Knuffel-Reggaes "Love Is The Seventh Wave" ein paar Takte und Worte von "Every Breath You Take" von "Synchronicity". Diese Gewohnheit bleibt erhalten. Nur zwei Jahre später wird er am Ende des Fegers "We'll Be Together" ("Nothing Like The Sun", 1987) schelmisch ganze Sätze von "If You Love Somebody" zum Besten geben.

Auch die Vergangenheit mit Police erhält mit "Shadows In The Rain" (Original auf "Zenyattà Mondatta", 1980) ein Lesezeichen, das zu gleichen Teilen Hommage wie Neudeutung verkörpert. Der Song über eine paranoide und schizophrene Persönlichkeit erhält ein dynamisches Uptempo-Lifting und gewinnt mit Stings gehetzten und rauen Vocals an Form und Charisma.

Ohnehin wirkt Sting stimmlich so befreit und nuanciert wie höchstens auf dem Album "Flashback" von 1978. Das nur auf den ersten Blick unscheinbare "Consider Me Gone" ist so eine Demonstration gesanglicher Stärke. Wer mal versucht, das romantische Stück Ton für Ton so lässig und unangestrengt nachzusingen, wird womöglich höchstens einen Knoten in den Stimmbändern bekommen.

Für die beiden absoluten Höhepunkte der Platte borgt Sting sich ein wenig Inspiration von anderen Künstlern. "Moon Over Bourbon Street" ist eine zärtlich verzweifelte Vampirballade mit ausgefeiltem Text und vergleichsweise spartanischem Arrangement. Jones Bass und Marsalis' Sax bekommen viel Raum zum Atmen und danken es dem Track mit melancholischer Sinnlichkeit der Extraklasse. Die lyrische Grundidee entnimmt Sting Anne Rices "Interview Mit Einem Vampir". Musikalisch bedient er sich unüberhörbar beim französischen Chansonklassiker "Les Feuilles Mortes" (Yves Montand), den auch Iggy Pop auf seinem Album "Preliminaires" grandios interpretiert.

Mein persönlicher Alltime-Favorit von Sting überhaupt ist gleichwohl der psychedelische Jahrhundertmoment "Russians". Die zeitlose Kritik am Wettrüsten und dem ewigen Gezänk der Supermächte ist schon für sich großartiger Sarkasmus. Der Clou des ganzen ist jedoch die augenblicklich fesselnde, in Trance versetzende Musik dieses verdienten Singlehits. Ein bisschen sakraler Spirit, ein Hauch finstere schwarze Messe und im Hintergrund läuft die Zeit der Menschheit mit unheilvoll tickendem Zeiger ab.

Spätestens beim Killerrefrain "We share the same biology, regardless of ideology!" möchte man sich vor der melodischen Kraft des Themas in den Staub werfen. Sollte man auch. Und zwar vor allem vor Sergej Prokofjew! Letzterer komponierte das Stück nämlich bereits 1934 als "Romance" für den Film "Lieutenant Kijé". Sting gab dies auch gern zu und pries den russischen Komponisten, wo er nur konnte.

So kommt Sting mit seinem blauen Schildkröten-Erstling gleich auf dem Zenit des eigenen Schaffens an. Mit "Nothing Like The Sun" ("Fragile", "Sister Moon") und dem melancholischen "Soul Cages" wurde er dieser eigenen Messlatte noch zwei weitere Male einigermaßen gerecht. Doch nichts im weiteren Verlauf seiner ambitionierten Karriere kann diesem Zauber des ersten Mals je das Wasser reichen. "So after today consider me gone, gone gone."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. If You Love Somebody Set Them Free
  2. 2. Love Is The Seventh Wave
  3. 3. Russians
  4. 4. Children's Crusade
  5. 5. Shadows In The Rain
  6. 6. We Work The Black Seam
  7. 7. Consider Me Gone
  8. 8. The Dream Of The Blue Turtles
  9. 9. Moon Over Bourbon Street
  10. 10. Fortress Around Your Heart

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9 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    Yoooo...! Danke für die Erläuterungen und die Erklärung zur Verkürzung der Thematik "Set them free / Every breath". Das ist nachvollziehbar. Ebenso die Straffung bei den Beschreibungen der weiteren Songs.
    Allerdings muss ich Deinem Widerspruch bezüglich dem wahren Debüt widersprechen. Das wahre Debüt war wohl die Zusammenarbeit mit "Gong´s" Bassisten Mike Howlett - der Formation "Strontium 90". Hier gingen Summers, Copeland und Sting gemeinsam ins Studio, nahmen unter anderem "3 o´clock shot" auf, aus dem nachher zwei Songs wurden (Be my girl Sally - Outlandos d´amour) und "oh, my god" (Synchronicity). Ebenso gab es hier schon ein nettes Demo von "Every little thing she does is magic. Diese Aufnahmen stammen vom Februar 1977. Die Arbeiten zu "Flashback" fanden erst im Winter 1977/1978 statt. Musikalisch war das Trio bei Strontium 90 viel dichter am eigenen Credo als es bei Schoener überhaupt möglich war. Aber ich will das gute Review gar nicht besudeln, lediglich anmerken.

  • Vor 9 Jahren

    touchee, :D das strontium-teil kann man natürlich auch als vertretbare debüt-these hochhalten.
    ich empfinde das jedoch anders. denn zum einen singt sting hier nicht durchgehend lead vocals und es fehlt noch genau jene ausformung, die auf flashback so eindrucksvoll und identitätsstiftend (durch den mentor schoener) durchklingt. verglichen mit den geilen psychedelikorgien auf flashback oder dem wegweisenden proto-club-song "why don't you answer?" ist das strontiumteil aus meiner sicht doch eher niedliches proberaumgedengel von ein paar jungs, die noch üben müssen.

  • Vor 9 Jahren

    Es ist sowieso schwer, sich innerhalb der ersten Sting-Alben für einen einzigen Meilenstein zu entscheiden. Ich habe gestern nur mal wieder in die ersten beiden Songs von "Nothing like the sun" reingehört und hatte sofort die Genialität des gesamten Albums vor Augen - eigentlich noch vielseitiger, komplexer und erwachsener als die Turtles. Dann wurde es mit "Soul Cages" etwas düster, aber musikalisch und textlich ebenfalls erste Sahne. Die "Ten Summoners Tales" sind vielleicht etwas seicht, aber gleichwohl experimentierfreudig mit starkem Song-Writing. "Mercury Falling" ist für mich sowieso der ewig unterbewertete Geheimtipp, gefolgt vom exzellent produzierten "Brand New Day". Nennt es Schwärmerei, aber innerhalb der ersten sechs Sting-Alben fällt es mir schwer, eines nicht als Meilenstein zu betrachten. Insofern war es aber konsequent, das erste zu nehmen, weil Sting dort den radikalen Bruch mit seiner Police-Ära und seinen bisherigen Fans gewagt hat.