laut.de-Kritik

Die Blaupause für Interpol, The National und Slowdive.

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Es lassen sich Bücher füllen mit Geschichten über Künstler oder Bands, die mit ihrer Musik zur falschen Zeit am falschen Ort waren und deren musikalische Schätze erst viel später, meist nach der Band-Auflösung gehoben werden (etwa in dieser Meilenstein-Rubrik). Besonders bedauerlich wird es, wenn der Platz für die Musik rückblickend eigentlich genau richtig erscheint, nur das Interesse des kaufkräftigen Publikums vorbeiwehte wie ein einsamer Tumbleweed in den Steppen Amerikas.

Warum "Script Of The Bridge", das großartige Postpunk-/Dream-Pop-Debütalbum der Chameleons, Ende des Jahres 1983 nicht sofort auf Gegenliebe gestoßen ist, können wahrscheinlich nicht einmal Zeitzeugen ansatzweise erklären. Vielleicht war man in England und Umgebung damals einfach zu verwöhnt, The Cure, The Smiths, New Order, The Fall, Prefab Sprout, der Indie-Gitarren-Sektor war an Talenten voll bis unters Dach, wieso sollte man da noch Australiern Beachtung schenken (The Go-Betweens) oder gar der vierten Combo aus Manchester? Vielleicht war den Menschen damals ein Chamäleon in den Charts auch einfach genug ("Karma Chameleon"), was dann aber nicht erklärt, warum auch die weiteren Spitzen-Alben "What Does Anything Mean? Basically" (1985) und "Strange Times (1986) kläglich scheiterten.

Als ich 2002 zum ersten Mal "Turn On The Bright Lights" von Interpol hörte, war ich felsenfest davon überzeugt, dass kein Mensch jemals zuvor majestätischer Indie-Gitarren in Hall ertränkte. Kurz darauf entdeckte ich dann die Chameleons und traute meinen Ohren nicht. Ich suchte mir via Altavista ein paar Band-Facts zusammen, las über eine Reunion der Band, freute mich, und las im nächsten Artikel von der Trennung. Geht es um Geschichten ohne Happy End, stehen die Chameleons ganz oben. Wenigstens da.

Irgendwann ging Youtube online und lüftete ein Geheimnis, für das jugendliche Chameleons-Fans 1983 vermutlich auf den dritten Star Wars-Film verzichtet hätten. Die Frage war: Woher zur Hölle stammt das Film-Sample, das den Album-Opener "Don't Fall" einleitet? Es soll Die-Hard-Fans gegeben haben, die jahrelang alte Schwarzweiß-Schinken aus ihrer Heimat-Videothek sichteten, nur um zur Lösung dieses aus jeglicher Hinsicht elementaren Problems vorzustoßen. Suffer Little Children. Heute dauert so eine Recherche wenige Minuten: Es war die Musikkomödie "Erfüllte Träume" von 1946. "In his autumn before the winter / comes man's last mad surge of youth", sinniert der Protagonist, gedankenverloren, bevor ihn seine Mutter jäh ins Jetzt zurück holt: "What on earth are you talking about?" Und dann setzen diese repetitiven Gitarren ein, die eine Blaupause sind für all die Editors, Horrors, Slowdives und The Nationals, ungezähmt, dabei aber melodisch und einfach on point gespielt vom Gitarrendoppel Dave Fielding und Reg Smithies.

Mark Burgess wollte ursprünglich nur Bass spielen, war aber prädestiniert für die Rolle des gequälten Genies hinterm Mikro und legt auch gleich mit der entsprechenden Ladung Teenage Angst los: "I hear my name above everything else / Mark! Mark! above everything else (...) No-one's really certain what tomorrow brings". Wobei einer tatsächlich so tat, als wüsste er, was morgen käme, nämlich New Wave-Impressario Miles Copeland III, älterer Bruder von Police-Drummer Stewart, Labelbesitzer und bekannt mit Kalibern wie Lou Reed und The Clash. Copeland flüsterte Burgess am Rande einer Peel Session zu: "Ich mache euch in zwölf Monaten zu Millionären". Den vier bodenständigen Kids flößte dieser überheblich-elitäre Business-Ton dagegen noch mehr Angst ein. Die Band wählte deshalb das Glasgower Indie-Label Statik Records und Burgess verarbeitete diese Erfahrungen in "Monkeyland": "I shake my head and shiver / they smile and stab my back as they shake my hand / send out an SOS please / I'm marooned in Monkeyland."

"Here Today", eine Hommage an John Lennon, führt nach der stürmischen Eröffnung den Trademark-Sound der Chameleons ein: Eng verwebte und geschichtete Gitarre-Bass-Strukturen mit der ganzen Kraft der Moll-Pentatonik, wie sie in ähnlicher Form manchmal noch Will Sergeant von Echo And The Bunnymen heraus presste. Streicheleinheiten für desillusionierte Teenager in den 80ern, innovativ und mitreißend, man hätte nur zuhören brauchen.

Das knapp siebenminütige "Second Skin" ist so etwas wie das frühe Opus Magnum dieser Band, voller Atmosphäre, Melancholie und Intensität, dazu singt Burgess über vergängliche Schönheit: "If this is the stuff that dreams are made of / then no wonder I feel like I'm floating on air." Ein Song für die Stadien, in denen dann aber Bono und U2 spielten. Ein Paradebeispiel für den britischen Jingle-Jangle-Gitarrensound, als dessen Erfinder aber weithin Johnny Marr gilt.

"Up The Down Escalator" ist neben dem Opener das offensivste Uptempo-Stück mit fetter Wall-Of-Sound von Fielding und Smithies, dabei eher euphorisch als schwermütig, John Lever trommelt sich in Rage, Burgess mit atemberaubender Melodieführung - die einzig logische Single-Entscheidung. Umso härter muss sich der Aufprall angefühlt haben, als die britische Musikpresse die Nummmer einfach ignorierte und stattdessen die zeitgleich erschienenen Singles "The Cutter" von Echo & The Bunnymen und "New Year's Day" von U2 in den Himmel schrieb.

Die zwischen Frustration und Erlösung pendelnde Dramatik von "Thursday's Child" stellt einen schönen Kontrast dar zum vergleichsweise gefälligen Indie-Pop in "As High As You Can Go", bevor das Album mit "View From A Hill" stark ausklingt, ist schließlich der beste Interpol-Song, den Interpol allerdings gar nicht geschrieben haben. 2017 stirbt Drummer John Lever, der 2000 auch bei der kurzen Reunion der Band dabei war. Mark Burgess tritt seit vielen Jahren als Chameleons Vox auf, die nostalgische Entsprechung von Peter Hook & The Light.

Burgess verheimlichte nie, dass die Gitarren auf dem U2-Debüt "Boy" 1980 einen enormen Einfluss auf dieses Album hatten, weil The Edge als einer der ersten eine neue Variabilität im Zusammensetzen der vermeintlich alten Blues-Akkorde ersann, die eine Art Büchse der Pandora für alternative Gitarrenmusik öffnete. In einem Interview erzählte Burgess einmal, wie er mit The Edge nach einem gemeinsamen Konzert in Sheffield zusammen saß: "The Edge erzählte uns, dass sie gerade ihr neues Album 'October' aufgenommen und damit klar Amerika ins Visier genommen hätten. Sie hatten damals schon diesen großen Traum, für den sie kämpften. Die Chameleons nicht. Wir waren dafür bestimmt, unsere Punkrock-Wurzeln zu bewahren."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Don't Fall
  2. 2. Here Today
  3. 3. Monkeyland
  4. 4. Second Skin
  5. 5. Up The Down Escalator
  6. 6. Less Than Human
  7. 7. Pleasure And Pain
  8. 8. Thursday's Child
  9. 9. As High As You Can Go
  10. 10. A Person Isn't Safe Anywhere These Days
  11. 11. Paper Tigers
  12. 12. View From A Hill

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LAUT.DE-PORTRÄT The Chameleons

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8 Kommentare mit 11 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    Die britische Bandlandschaft war nie besser als in den späten 70ern/frühen 80ern und The Chameleons sind wegen der kommerziell verwertbaren Konkurrenz nie groß rausgekommen, aber man kann sie (neben The Sound) als würdige Nachfolger von Joy Division bezeichnen, denn das war die Tanzkapelle New Order nicht.

    • Vor 5 Jahren

      Wobei zum Beispiel Get Ready ein sehr anständiges Album war, um nicht zu sagen ein 5/5 er

    • Vor 5 Jahren

      Die meisten Alben von New Order sind sehr gut.

    • Vor einem Jahr

      Movement ist m. E. von den Songs noch aus der letzten Phase von Joy Divison bzw. stark davon beeinflusst. Für mich das beste NO Werk bei dem Bernard Sumner sich noch nicht so peinlich überschätzt. Die New Order Alben und Singles muss man tatsächlich getrennt sehen, ab Blue Monday Dance/Techno orientiert, während die Alben eine Mischung aus Synth (meistens die Auskopplung) und Wave/Postpunk-Gitarren sind.

  • Vor 5 Jahren

    New Order "Tanzkapelle"???
    Movement?
    Low Life?

  • Vor einem Jahr

    Schöner Artikel und gerade das Erstlingswerk ist ein Meilenstein des Postpunks (neben From the Lions Mouth von The Sound und Sleep no more von den Comsat Angels), welches sich von vielen damaligen Bands/Platten allein schon durch die doppelte Gitarrenarbeit und den faktisch immer wuchtig gespielten Drums abhob. Alle genannten Bands hatten aber Leadsinger, die eher im Bandgefüge agiert haben und nicht als Aushängeschild wie ein Ian McCulloch oder Bono. An welche Bands sich die Medien hängen ist dann klar.