laut.de-Kritik
18 LP-Boxset: Das flüssige Glück des Augenblicks.
Review von Alex Klug"La Realidad De Los Sueños" – Die Realität der Träume. 2001 war es, als Omar Rodríguez-López und Cedric Bixler-Zavala beschließen, ihre Träume endlich Realität werden zu lassen. Gebeutelt von musikalischen und persönlichen Konflikten mit At The Drive-In-Bandkollegen entscheiden die beiden in brüderlicher Manier, aus der zwangsverordneten Bandpause vorerst nicht zurückzukehren. Was die beiden in der folgenden Dekade unter dem Banner The Mars Volta auf die Beine stellen, ist monströs, unerhört, genial und maßlos angeberisch zugleich – Attribute, die sich wunderbarerweise genauso gut auf das vorliegende 18-LP-Boxset anwenden lassen.
Mit mitgeliefertem Standfuß zur diagonalen Präsentation und einer Artwork-Collage, die allen sechs Studioalben und diversen Singles Tribut zollt, ist "La Realidad De Los Sueños" zweifelsohne zum Protzen geschaffen. Große Klappe, viel dahinter, scheinbar endlos – und deshalb von Zeit zu Zeit etwas schwer im Abgang.
Teilzeit-Volta-Fans toben schon bei Ankündigung. Klar: Geschrien hatte man quasi unisono nach einer Neupressung der Debüt-Sahneschnitte "De-Loused In The Comatorium". Doch für Rodríguez-López und Bixler-Zavala zählt eben nur der ganze Kuchen – und zwar mit Glasur in Form von Pressung und Vinyl-Master der Clouds Hill-Konditorei um Produzent Johann Scheerer. Als Labelheimat für Rodríguez-López, aber auch als Doherty-Sparringspartner und Studioumgebung fürs letzte Die Ärzte-Album ist es diese penibel-liebevolle Hamburger Klangschmiede, die The Mars Volta zum Erbverwalter ihrer üppigen Diskografie krönen.
Ja, aber macht das denn überhaupt einen Unterschied, ob man sich jetzt dieses Boxset für 400 Euro aufs Kallax stellt oder sich als Debüt-Fan einfach "De-Loused" für 300 Euro in eBay schießt? Oh, aber ja! Nicht nur, dass The Mars Volta weiterhin versichern, dass es sich bei Universals 2014er-Nachpressungen (basierend auf einem Digital-Master) um nichts anderes als schnöden Vertragsbruch und somit um Bootlegs handelt: "La Realidad De Los Sueños" erzählt tatsächlich die ganze Geschichte. Und die ist auch für Fans interessant, deren Meinung nach The Mars Volta spätestens mit dem dritten Werk musikalisch einmal zu viel falsch abgebogen sind (was freilich Quatsch ist.)
Schon der Debüt-EP "Tremulant" hört man 2001 die dubbige Restessenz des früheren Drive-In-Nebenprojekts De Facto an. Mit der Produktion des Glanz-und-Gloria-Debüts haben die drei Psych-Prog-Tracks noch nicht viel gemein. Was fehlt, war die logische Staffelübergabe: die ähnlich restpsychedelische Urversion von "De-Loused In The Comatorium" – eingespielt, bevor ein gewisser Mr. Rubin die Zügel in die Hand nahm. Aufnahmen, die teils jahrelang in minderwertiger Qualität durchs Netz geisterten, ohne ein offizielles Release zu erfahren. Bis jetzt. Das nur im dünnen Demo-Sleeve beiliegende "Landscape Tantrums (Unfinished Original Recordings Of De-Loused In The Comatorium)" ist eines der Herzstücke der Box – und lässt sich dieser Tage auch erstmals streamen.
"Landscape Tantrums" und die beiden weiteren Demo-Songs machen deutlicher denn je klar, was wir uns unter der im Artwork erwähnten "Sound Manipulation" des verstorbenen Jeremy Michael Ward vorstellen können: Wabernde Phaser auf Omars Gitarre, verwaschener Reverb über Cedrics roher, ungeschliffener Stimme. Und: Ohne. Ende. Pannings. Im Panorama-Modus sausen die Noten vom linken in den rechten Channel, sodass die ja auch so schon nicht immer leicht verdauliche Mischung noch flirrender reindröhnt. Dazwischen: "Televators" als gefühlige Akustikballade, eine exquisite Variante von "Eriatarka" samt floydig-spacigem Zwischenpart und eine instrumentale Drum-Inferno-Version von "Take The Veil Cerpin Taxt".
Fest steht auch: Als Omar Rodríguez-López Rick Rubin bittet, das Projekt zu übernehmen, stehen vom vielleicht wichtigsten Prog-Album der 2000er schon weit mehr als nur die Eckpfeiler. Was nicht heißt, dass Rubin sich ins gemachte Nest setzt. Er tut, was er am besten kann: Er schärft die Vision der Gruppe – und bringt sie ein Stück weit in Einklang mit modernen Hörgewohnheiten. Bleibt die Frage: Hätte Rubin vielleicht auch auf späteren Mars Volta-Platten aufräumen sollen? Keinesfalls!
Viel zu viel gibt es noch immer auf den noch weniger Easy-Listening-kompatiblen Platten zu entdecken: Das stellen das neue Mastering – aber eben auch die inkludierten frühen Puzzlestücke – klar heraus. Natürlich nötigen Alben wie "Amputechture" und "The Bedlam In Goliath" Ersthörenden immer noch einen ganzen Schwung geduldiger Hördurchläufe ab. Aber sie klingen auf "La Realidad De Los Sueños" (bzw. auf dem Plattenteller) eben auch einfach aufgeräumter, weil unkomprimierter. Und die volle Volta-Experience erarbeitet man sich eben nicht durch eine Best-Of, sondern über die ganze Diskografie – auch wenn's weh tut.
Angesichts ihres Boxset gewordenen Vermächtnisses sprechen Rodríguez-López und Bixler-Zavala gerne vom "devil in the details". Und natürlich steckt hier viel Liebe im Detail: Das zeigen schon die weitestgehend originalgetreuen und gerade in Bezug auf die unterschiedlichen Gatefold-Ausführungen angenehm unstandardisierten Coversleeves – mehr eine echte Fan-Sammlung (mit 3D-Brille) als einheitlich plumpe Massenware. Schöne Sache. Bei "De-Loused" kaschiert man den früheren Labelfehler und tauscht vorne und hinten Storm Thorgersons "Egg-Man" gegen seinen "Jellyfish-Man", verzichtet dann aber gerade hier auf die tückischen Endlosrillen, die zumindest ab "Frances The Mute" wiederauftauchen.
Und dann gibt es natürlich die nachträgliche "Korrektur" der nicht unumstrittenen Eigenwilligkeit, zwischen Rodríguez-López/Bixler-Zavala als The Mars Volta und der rein exekutiven Mars Volta Group zu unterscheiden. Und so nehmen die beiden auch in den Booklets der ersten beiden Studioalben eine entsprechende Abstufung vor. Nötig ist das – wie auch das systematische In-die-letzte-Reihe-rücken von Bassist Juan Alderete – nicht.
Doch so ist eben das Selbstverständnis der Gruppe, die sich im beiliegenden Fotoband (nicht ohne Selbstkritik) mehr denn je als totalitäre Omar-Diktatur beschreibt. Die uns neben nicht immer unprätentiösem Griffbrettgewichse auch grandiose Momente zwischen Kakophonie, Pop und Transzendentalismus geschenkt hat. Vom Nichts-mehr-unterdrücken-müssen zur Alles-muss-raus-Politik. Dazwischen: Grenzüberschreitende Alben en masse.
Der größenwahnsinnig ausgestreckte Mittelfinger "Frances The Mute" etwa wähnt sich zu Recht auf einem guten Weg, endlich als zweiter großer Volta-Meilenstein erkannt zu werden. "The Bedlam In Goliath" und insbesondere "Amputechture" hingegen kranken von Zeit zu Zeit zwar noch immer etwas am Mahavishnu Orchestra-Syndrom, stehen damit aber eben auch in der Tradition starker Fusion-Alben. Während Omar Rodríguez-López sich allmählich irgendwo bei Soloalbum Nummer 50 einpendelt, hat er sich während seiner Mars Volta-Zeit noch die Zeit gelassen, seine autokratischen Tentakel vor Benutzung einmal zu ordnen.
Und schließlich sind es neben Flea und John Frusciante fast 20 weitere Musiker, die diese Diskografie aufs höchste spielerische Niveau hieven. Eigentlich ja ganz in der Tradition King Crimsons. Ja, vermutlich sah sich Omar einfach als Robert Fripp seiner Generation. Ein unerreichbares Ziel, klar, aber ein hehres. Welche ungeahnten Visionen das bestfrisierteste Duo El Pasos aber auch künftig noch hätte auf Albumlänge zaubern können, zeigen insbesondere die beiden finalen Werke "Octahedron" und "Noctourniquet". Schließlich ging es mit deren erfreulich stringenten Akustik- und Synthesizer-Grundtönen doch bei Kritikern und Fans gerade erst wieder bergauf.
Doch vielleicht verhält es sich bei The Mars Volta eben wie bei Investments in Kryptowährungen: Wenn die Kurve schließlich wieder nach oben geht, sollte man als besonnener Zeitgenosse zufrieden aussteigen – und sich freuen, dass man dabei gewesen ist. Das flüssige Glück des Augenblicks. La Realidad De Los Sueños. Was eine Band.
9 Kommentare mit 15 Antworten
Nicht, dass wir das alles für den Soundtrack unserer Leben gebraucht hätten. Aber sobald mensch sich zu einer achtbaren Plattensammlung entschließt, entsteht die Tendenz, es ab irgendeinem Punkt zu übertreiben.
Was soll das überhaupt kosten?
10 Tracks auf 18 LPs? Muss ne krasse Drone-Metal-Kapelle sein!
Schön, daß ihr Werk hier endlich mal gewürdigt wird. "Frances The Mute" muß in der Rückschau einer der düstersten Rezensionstage von laut.de gewesen sein. Aber zugegeben - die Band war schon immer in einer völlig anderen Sphäre als jeder Prog-Rock zu der Zeit, und das bis heute. Kann schon mal ein paar Wochen dauern, so eine LP zu hören.
Auf meinem Lieblingsfestival gibt es traditionell eine Silent Disco, bei der auf einem Kanal durchgehend The Mars Volta läuft.
Take my Money bitches °° 5/5
Mariachi Slipknot