laut.de-Kritik

Elegischer Schwanengesang seiner Kunstfigur.

Review von

"All I have is my legacy / I been losing my memory / No afterlife, no other side / I'm all alone when it fades to black."

Abel Tesfaye beerdigt The Weeknd. Mit "Hurry Up Tomorrow" beschließt er seine Trilogie, bestehend aus "After Hours" (dem Gang durch die Hölle) sowie "Dawn FM" (dem Weg durchs Fegefeuer). Der derzeit weltgrößte Popstar schickt seine Kunstfigur mit berauschender Geste auf seine letzte Reise, eine Himmelfahrt voller intimer Momente, aufgeteilt in 22 Stationen. Das größte, ambitionierteste und im Kern traurigste Werk: Für das Ende nur das Beste.

Wir erleben einen Sänger, der weiß, dass er diesen Schritt gehen muss, auch wenn es ihm eine Heidenangst einjagt. Sich von The Weeknd loszueisen, dieser Person, die ihn auf den Musikolymp führte, ihm Ruhm und Ehre einbrachte, evoziert einen Cocktail aus innerer Zerrissenheit und Ungewissheit. Was kommt nach dem Morgen? Gibt es das überhaupt? "How do I know tomorrow's coming? / Especially when I always kiss the sky / Especially when I always chase the high / I don't suppose tomorrow's coming." Dennoch blickt er gefestigt in die Zukunft, möchte all den Schmerz, der solch ein Leben mit sich bringt, hinter sich lassen. Er fühlt sich bereit und kann es eigentlich kaum erwarten: "So I see heaven after life / I want heaven when I die / I want to change / I want the pain no more."

Musikalisch wirft Abel nochmal alles in die Waagschale, geht Experimente ein, verfeinert sein Spektrum mit Interludes, beglückt uns mit wunderbaren Songübergängen und fährt bekannte Namen auf. Angefangen mit Justice, die beim Opener "Wake Me Up" ihre unverkennbaren Trademark-Sounds aus knackigen Claps, tiefen Synths und Streichern zur Schau stellen. Nebenbei zollt man sowohl Michael Jacksons "Thriller" als auch Giorgio Moroders "Main Title" aus Scarface Tribut. Glitzernd, tanzbar, infektiös - ein bombenfester Einstieg.

Apropos: Der gebürtige Südtiroler mit dem Schnauzer gibt sich bei "Big Sleep" höchstpersönlich die Ehre, während er seine eigene Musik aus "Midnight Express" interpoliert. Ein dramatisch-schleifendes Sci-fi-Lamento mit irritierendem Einstieg und raumgreifenden Synthies. Ebenso ungewöhnlich, der unerbittliche Stampfer "São Paulo", mit fieser Lead-Synth, bei dem Anitta, eine Ikone des Brazilian Funk nachahmt. Es lebt von Gegensätzen aus hartem Beat und weichem Gesang plus hellen Melodien. Gen Ende darf Produzent Mike Dean aus dem vollen Schöpfen.

Er zeichnet sich auch generell für das Gesamtkontrukt des Albums aus, mit Hilfe von u.a. Oneohtrix Point Never, Metro Boomin, Max Martin und Pharrell Williams. Letztgenannter steht bei "Timeless" in den Credits, einem der strahlenden Hits, während er überraschenderweise auf seinen ikonischen "four count start" verzichetet. Mit einem famosen Playboi Carti entfaltet sich eine klassische Representer-Hymne, der Beat wabert futuristisch und wertig, wenn verschiedene Synthie-Melodien übereinander spielen. Äußerst atmosphärisch schleusen sich Carti-Adlibs ein und ergeben ein kohärentes Soundbild. Düster, cool und selbstbewusst.

In der Mitte platziert Abel ein Dreiergespann aus langen Songs, die Beatwechsel beherbergen und eine enorme Gravitas ausstrahlen. "Reflections Laughing" eröffnet betulich mit Akustikgitarre, Field Recordings und einer sich versteckenden Florence & The Machine, wärend er über Verletzlichkeit und die Schattenseiten von Erfolg parliert. Sobald der down-gepitchte, mächtig auftrumpfende Travis Scott ans Mikro tritt, ändert sich die Stimmung, der Beat stürzt in einen Sad-Banger-Trap hinunter. "Enjoy The Show" versprüht selige Kanye-Vibez, dank süßlichem Beat und hoch-gepitcher Stimme. Auch hier droppt der Beat in finstere Gefilde, sobald Future seinen Part ergänzt und beide über ihr Verhältnis zu Drogen berichten. Das Outro donnert sogar schwerfällig. "Given Up On Me" begeistert mit zwei Samples: Zum einen "Wild Is The Wind" von Johnny Mathis im Kleid des Alternative-RnB, während ein The Weeknd aus früheren Tagen hindurchschimmert. Future schleicht sich ebenfalls rein für die Bridge. Ab der Mitte übernimmt "On The Way" von den Chicago Gangsters, auf dem Abel melancholisch über ein Jazz-Klavier croont. Am Ende ertönt ein kaskadierender Elektroausbruch.

Die schönste Brücke schlägt Abel indes recht früh. Das wunderschöne, zutiefst wehmütige "Baptized In Fear" berührt ungemein und fließt nahtlos in das pompöse Highlight "Open Hearts": Treibender Beat, gleißende Synthies, perlender Gesang. Eine mitreißende Synthwave-Disco-Operette!

Das letzte Drittel drückt ein wenig auf die Bremse und beginnt mit dem eher unauffälligen Neo-R'n'B "Niagara Falls", das in "Take Me Back To LA" mündet. Knietief im Sythiepop der Achtziger stehend, wälzt sich The Weeknd in verführerischer Nostalgie. Mit ein wenig Gospel angereichert, nähert er sich in "Give Me Mercy" an Gott und möchte den Draht zu ihm intensivieren. Das verträumte "Drive" gibt sich lieblich und offeriert gewisse Starboy-Vibes. Passend dazu lässt sich Lana Del Rey zu rastlosem Piano in "The Abyss" nicht zweimal bitten. Das einnehmende "Red Terror" taucht in Dark Electro ein und erinnert an "Every Angel Is Terrifying" vom Vorgänger, surft leger zum nachdenklichen Darkwave "Without A Warning".

Dieses Mammutprojekt offenbart jedoch zwei Schwachstellen: Zum einen ächzt es ein wenig unter seinem eigenen Gewicht, reizende Kleinode wie "I Can't Wait To Get There" gehen unter und hinten raus fehlt es an Kondition. Immerhin haben wir es hier mit einer Spielfilmlänge von 84 Minuten zu tun. Zum anderen misslingt ausgerechnet der Titeltrack und gleichbedeutend der Closer. Das Lied, mit dem er seiner Kunstfigur Lebewohl sagt, ertränkt er in maßlosem Kitsch und drückt unnötig stark auf die Tränendrüse. Wie der Abspann einer Schmonzette, insbesondere wenn die Orgel dazustößt. Ein ordentlicher Lapsus! Wenigstens verzichtete er auf die lose Single "Dancing In The Flames", ein lebloser Pop-Einheitsbrei.

Nichtsdestotrotz: "Hurry Up Tomorrow" markiert einen modernen, perfekt produzierten, qualitativ hochwertigen, elegischen Schwanengesang, der den Synthwave in seinen Federn trägt und elegant gen Himmelspforten segelt. Ein homogener, einnehmender auditiver Schönklang. Abel macht keine halben Sachen, legt zum letzten Hurra sein Herz und Seele offen und beschert The Weeknd die bittersüße Verabschiedung, die er verdient.

"Now I'm ready for the end / So burn me with your light / I have no more fights left to win / Tie me up to face it, I can't run away / and I'll accept that it's the end."

Trackliste

  1. 1. Wake Me Up
  2. 2. Cry For Me
  3. 3. I Can't Fucking Sing
  4. 4. São Paulo
  5. 5. Until We're Skin & Bones
  6. 6. Baptized In Fear
  7. 7. Open Hearts
  8. 8. Opening Night
  9. 9. Reflections Laughing
  10. 10. Enjoy The Show
  11. 11. Given Up On Me
  12. 12. I Can't Wait To Get There
  13. 13. Timeless
  14. 14. Niagara Falls
  15. 15. Take Me Back To LA
  16. 16. Big Sleep
  17. 17. Give Me Mercy
  18. 18. Drive
  19. 19. The Abyss
  20. 20. Red Terror
  21. 21. Without A Warning
  22. 22. Hurry Up Tomorrow

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