laut.de-Kritik
Willkommen in der Hölle!
Review von Mirco Leier1995 ist die Welt des amerikanischen Hip Hops zweigeteilt. Während die Talentschmiede des Big Apple mit Alben von Nas, Wu-Tang, Mobb Deep und Big L zukünftige Boom Bap-Klassiker am Fließband produziert, feiert man im Westen zu sonnigem G-Funk und lauscht umhüllt von grünem Dunst den Gangster-Tales von Snoop Dogg, Dr. Dre und Konsorten.
Noch bevor diese Dualität im August des Jahres eine hässliche Wendung nehmen wird und André 3000 dem ausgebuhten Süden bei den Source Awards eine Stimme verleiht, bevor Goodie Mobb den Begriff des "Dirty South" überhaupt in den Ring werfen, öffnet eine Gruppe perspektivloser Teenager in Memphis, dem dreckigen Niemandsland des Sprechgesangs, die Höllenpforten und legt mit "Mystic Stylez" still und heimlich den Grundstein für die Zukunft des gesamtem Genres.
Damals wollte davon aber niemand etwas wissen. Radio-DJs weigerten sich, die Musik der Three 6 Mafia anzufassen, außerhalb ihrer Stadt rümpfte man die Nase über sie. Gewaltverherrlichend, satanistisch, verstörend: Nur einige der Labels, mit der man ihre Musik brandmarkte. Spult man nun aber 20, 25 Jahre im Zeitgeschehen des Hip Hops vor, so sind all diese Labels omnipräsent. Im Drill rappt man fast ausschließlich über die mörderische Realität der Straße, und Rapper wie Playboi Carti und Lil Uzi Vert, zwei der erfolgreichsten Künstler der Szene, kokettieren schamlos mit satanistischer Symbolik.
Nicht nur was Inhalt und Auftreten angeht, waren die sechs Rapper ihrer Zeit um Dekaden voraus. Schon kurze Zeit nach der Jahrhundertwende entspringt den aggressiv rasselnden Hi-Hats und dem verstaubten 808s, die "Mystic Stylez" durchziehen, der Crunk, der mit schepperndem Bass und rücksichtlosen Texten die Charts und Clubs der Nation im Sturm erobert. Und auch der Trap, der heutzutage zum vielleicht beliebtesten und erfolgreichsten Subgenre der Welt avanciert ist, lässt sich ultimativ auch auf dieses Album und seinen Impact zurückführen.
"Mystic Stylez" war zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung mit nichts vergleichbar. Juicy J und DJ Paul, die Gründer und Produzenten der Gruppe, bedienten sich bei dem gleichen Arsenal an Soul und Funk-Samples wie Pete Rock, RZA oder DJ Premier, aber mit komplett gegenteiligem Effekt. Wo man im Osten versuchte, den Crates einen entspannten Vibe zu entlocken, aber den souligen Kern der Originale aufrecht zu erhalten, verschwand dieser bei Three 6 Mafia hinter einer minimalistischen Wand aus Rauch und Gewalt.
So teilen sich Marvin Gaye, Mavis Staples, Michael Jackson oder Rick James das Klangbild mit Samples aus Horrorfilmen und deren Soundtracks. Three 6 Mafia laden sie alle auf den Rücksitz ihres heruntergekommen Cadillacs ein und fahren mit ihnen durch die nächtlichen Straßen der gefährlichsten Großstadt Amerikas. Vorbei an dunklen Gassen und Gangstern mit noch dunkleren Seelen, während unweit entfernt in Nashville die weißen Jungs sorgenfrei auf ihrer Klampfe zupfen.
Mitte der 90er sucht Memphis eine Crack-Epidemie heim, was die Zahl der Gewaltverbrechen ins Unermessliche steigen lässt. Juicy J, DJ Paul, Gangsta Boo, Koopsta Knicca, Lord Infamous und Crunchy Black sind alle minderjährig, als sie sich dazu entschließen, Musik zu machen. Das hat zur Folge, dass sie mit einer erschütternden Emotionslosigkeit über die menschlichen Abgründe rappen, die sie Tag für Tag vor der eigenen Haustür zu Gesicht bekommen. Ein Trademark ihrer Musik, das sie bisweilen so böse und kaltherzig macht, das selbst heute vergleichbare Horrorcore-Künstler dagegen wie edgy Teenager klingen.
Schon "Break Da Law '95" beschwört mit besoffenen Horrorsynths und gespenstischen Polizeisirenen die Hölle auf Erden. "Shakin' like a motherfucker when I lock you down tight in the Chevy trunk with nothing but next to dig for your life / Fool it ain't no game, you gotta die, the devil sent me.": DJ Paul gibt sich als Antichrist, der nicht etwa vor den Boys in Blue flüchtet, sondern sie ins Fadenkreuz nimmt.
Es ist aber nicht das, was Paul und Konsorten am Mic zum besten geben, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, es ist die Beiläufigkeit, mit der sie es tun. Auf "Fuckin' Wit' Dis Click" und "Sweet Robbery Pt. 2" finden sich einige der grausamsten, kaltherzigsten und detailliertesten lyrischen Gewalttaten, die je das Licht der Welt erblickten, mit einem Esprit vorgetragen, als würden Lord Infamous und Juicy J gerade das ABC nachrappen.
Und auf eine verstörende, traurige Art tun sie das ja auch. Ihr ABC, ihren Alltag. Auch wenn ihre Vorliebe für Horror und das Düstere für einen Großteil der Bildlichkeit solcher Erzählung zuständig sind, scheint es trotzdem so, als bekomme man einen Einblick in etwas Verbotenes, in ein Stück Musikgeschichte, vor dem die Welt die Augen verschließt. "Mystic Stylez" tönt wie einer der verbotenen Filme in den letzten verstaubten Regalen der Videothek, zu denen man nur Zugang erhält, wenn man dem Verkäufer augenzwinkernd großzügiges Trinkgeld zukommen lässt. Ein Snuff-Film fürs Kassettendeck, und genau darin liegt auch die Faszination dieses Albums.
Der Bone Thugs-Diss "Live By Yo Rep" ist ein weiteres Beispiel dafür. Wo andere Rapper versuchen würden, ihr Gegenüber zu entlarven oder bloßzustellen, laden Three 6 Mafia die abgesägte Schrotflinte durch, knüpfen hämisch grinsend Henkersknoten und ziehen in den Krieg. Auf die Frage: "What would you do if someone tried to duplicate your ideas?" antwortet Lord Infamous: "Well, I shall take a 1000 razor blades and press them in their flesh / Take my pitchfork out the fire, soak it in their chest / Through the ribs, spines, charcoal the muscle tissue / And send what's left back to yo mammy / Cause that bitch might miss you". Da läuft es selbst Michael Myers eiskalt den Rücken runter.
Eine weitere Qualität von "Mystic Stylez" ist aber auch, diese Abartigkeiten möglichst wortgewandt an den Mann zu bringen. Wo Juicy J und DJ Paul in allererster Linie für ihre vorwärts denkenden Produktionen Lorbeeren einheimsen, glänzen Gangsta Boo und Lord Infamous an der lyrischen Front. Neben unglaublich kreativen Wortspielen sind es vor allem ihre Flows, die, besonders für ihre Entstehungszeit, neue Wege beschreiten. Der Triplet-Flow, der durch Migos' "Versace" an Popularität gewann und heute die Raplandschaft dominiert, erblickte auf Songs wie "Gotta Touch 'Em Pt. 2" erstmals das Licht der Welt. 18 Jahre vor "Versace"!
Überhaupt wird Lord Infamous' Leistung als MC nicht ausreichend gewürdigt. Der verstorbene Bruder von DJ Paul stellt hier mit seinen wenigen Auftritten einen Großteil der Konkurrenz, egal ob aus Ost oder West, problemlos in den Schatten. "The killa imperial black miracle from the bloody pacific / Scarecrow will flow to the end of infinity with the style that's mystic": Von Denzel Curry bis A$AP Rocky, alle nennen sie ihn als große Inspiration. Und dennoch ist sein Name im Laufe der Zeit fast in Vergessenheit geraten.
Zwischen all der Folter, den Morden und den Drogen, finden sich auf "Mystic Stylez" jedoch auch Momente des Sonnenscheins in der sonst stockfinsteren Atmosphäre. Der Cloudrap-Prototyp "Da Summa", die einzige Single, die es schließlich doch noch in die UKW-Frequenzen schaffte, reißt die Wolkendecke über dem spätsommerlichen Memphis für knappe fünf Minuten auf, und lässt neben jeder Menge Grasgeruch auch eine nostalgische Melancholie hindurch blitzen. Man möchte es der Three 6 Mafia gleich tun, in sein Auto steigen, und mit heruntergelassenen Fenstern dem Sonnenuntergang entgegen fahren. Einmal abschalten, zurücklehnen und durchatmen bevor "the nightfall breeze" wieder Einzug erhält.
"Back Against Da Wall" fällt zwar inhaltlich weniger entspannt aus, aber lockert das uniform teuflische Klangbild durch die wahrscheinliche beste Hook des Albums. Der gesungene Refrain tauscht die dominierende Abgründigkeit gegen eine ungewohnte Traurigkeit. "Ohh, that's how it is in the ghetto" lamentiert eine Frau da, ehe sie die Three 6 Mafia einstimmig unterbricht: "Pop pop pop, another trick sucka dopped". Für allzu viele Emotionen bleibt dann doch keine Zeit.
Kurz vor Schluss eint der Titeltrack nicht nur alle Mitglieder auf einem Song, auch Gastrapper wie Playa Fly, La Chat oder Mc Mack dürfen ran. Es ist eine Ehrenrunde für Memphis, ein klassischer Representer Posse-Cut, der nicht nur jedem Rapper einen 16er bietet um sich zu beweisen, sondern vor allem existiert, um gemeinsam ihre Stadt zu feiern. "Mafia!" schreien sie im Chor, aber Memphis ist mehr als dieses Kollektiv, und das wissen sie alle. Ohne DJ Spanish Fly, Kingpin Skinny Pimp oder Tommy Wright III gäbe es keine Three 6 Mafia.
Dennoch bleibt "Mystic Stylez" das Vorzeigewerk, der pechschwarze Monolith, der diese Stadt bis heute überragt. Ein Hexengebräu aller Ideen, die Memphis in den 90er ausspuckte, so kreativ, wie diabolisch. Damals wollte es niemand trinken, heute ist es gereift wie ein guter Wein. Der dreckigste Winkel des Dirty South ist eine Zeitkapsel in die Zeit, als der Süden noch der Underdog im amerikanischen Hip Hop war, und markiert fast zeitgleich mit André 3000s "The south got something so say"-Rede einen Wendepunkt, dessen Auswirkungen auch 2021 noch deutlich spürbar sind.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar mit 6 Antworten
Können wir eigentlich irgendwann mal einen Meilenstein hierzu bekommen? Oder ist das zu unwahrscheinlich?
Angebracht wäre es allemal. Halte ich jetzt auch nicht für besonders unwahrscheinlich.
Push
Push!
Push!
Hatte das Album gar nicht mehr auf dem Schirm. Absoluter Classic!