laut.de-Kritik
Mysteriöser Avantgarde-Jazz für verlorene Seelen.
Review von Toni HennigMit seinem rauen, aber lyrischen Trompetenspiel legte Tomasz Stanko gegen Mitte der 60er-Jahre das Fundament für den Jazz europäischer Prägung. Obwohl andere Platten des Polen eine wichtigere musikhistorische Bedeutung besitzen und sich größtenteils besser verkauft haben, beansprucht sein 1995er-Werk "Matka Joanna" einen besonderen Stellenwert in seinem umfangreichen Gesamtkatalog. Einerseits gilt es als Hommage an das Kunstkino seines Landes, als eines seiner ambitioniertesten Projekte. Andererseits markiert es eine Rückkehr zu seinen avantgardistischen Wurzeln.
Zudem wartet "Matka Joanna" mit einem genialen internationalen Ensemble an Spitzenmusikern auf. Für die Platte arbeitete der Pole wieder einmal mit der britischen Free Jazz-Legende Tony Oxley (Drums) sowie den beiden Norwegern Bobo Stenson (Piano) und Anders Jormin (Bass) zusammen. Mit "Bosonossa And Other Ballads" spielte der Vierer 1993 schon ein balladeskes Album ein.
Auf "Matka Joanna" sucht das intuitive Zusammenspiel zwischen Stanko und Stenson seinesgleichen, während Jormin in vielen Momenten mit individuellen solistischen Akzenten glänzt. Dagegen sorgt Oxley mit seiner losgelösten Schlagzeug- und Percussion-Arbeit für eine mysteriöse, surreale Grundstimmung, die man in dieser Form auf einem Jazz-Album bis dato nur selten gehört hatte.
Als Vorlage dient "Mutter Johanna von den Engeln", eine Erzählung von Jaroslaw Iwaszkiewicz, veröffentlicht 1946, die Jerzy Kawalerowicz 1961 in die Kinos brachte. Das Drama, das mit dem strengen Dogma der katholischen Kirche abrechnet, gilt nicht als unumstritten. Der Vatikan legte bei der Aufführung bei den Filmfestspielen in Cannes Protest ein. Dessen ungeachtet, prämierte die Jury den Film mit einem Sonderpreis.
Die Handlung spielt in einem Kloster in der polnischen Provinz Ludyn. Sie basiert auf realen Geschehnissen im französischen Loudon, wo im 17. Jahrhundert ein historischer Hexenprozess stattfand. Die Ereignisse, die sich dort zugetragen haben, spiegelt er bis ins kleinste Detail. Besessene Nonnen verbreiten Unheil in der heiligen Stätte.
Nachdem mehrere Exorzisten erfolglos versucht haben, ihnen die Dämonen auszutreiben, wird Priester Suryn ins Dorf entsandt. Er vermutet in der Vorsteherin Mutter Johanna von den Engeln die Übeltäterin und führt an ihr mehrere Teufelsaustreibungen durch, die ebenfalls wirkungslos bleiben. Zwischen beiden entwickelt sich eine besondere spirituelle Verbindung, aus der im Laufe der Zeit Liebe erwächst. Jedoch scheitern sämtliche Versuche, Johanna von ihrem Fluch zu befreien. In seiner Verzweiflung tötet Suryn zwei unschuldige Stallknechte, um ihre Sünden auf sich zu laden.
Demgegenüber zeigt sich die Nonne Malgorzata, die keinerlei Anzeichen von Verfluchtheit aufweist, absolut gar nicht gottesfürchtig. Sie geht eine völlig unplatonische Beziehung mit dem Edelmann Chrzaszczewski ein, der sie nach einer Liebesnacht traurig zurücklässt.
Die Botschaft des Films gerät ungemein fortschrittlich und humanistisch. Der Zuschauer soll Johannas und Suryns Zwiespalt aus religiöser Verpflichtung und nicht ausgelebten menschlichen Bedürfnissen am eigenen Leib spüren. Malgorzata als Gegenpol verkörpert eine frei denkende, selbstbestimmte Frau, die sich auf der steten Suche nach Erfüllung nimmt, was immer sie will. Letzten Endes richten sich Kawalerowiczs Bilder gegen jedwede Form institutioneller Unterdrückung. Diese setzt er mit düsterer Schwarz-Weiß-Ästhetik à la Ingmar Bergman, symbolischen und subversiven Mitteln eindrucksvoll in Szene.
Den vielen dialoglosen Passagen des Filmes, der bis heute noch keine Veröffentlichung in deutscher Sprache erfuhr, haftet etwas Magisches an. Die stillen Schlüsselmomente des Dramas überführt das Quartett auf "Matka Joanna" in einen zeitlos-poetischen Jazz-Kontext.
In "Monastery In The Dark" bauen die schabenden Percussions von Tony Oxley und das kammermusikalische Spiel am Bass ein graues, trostloses Szenario auf. Erst gegen Ende schälen sich inmitten dichter Nebelschwaden sparsame Piano-Akkorde und verlassene Trompeten-Töne heraus und lassen kunstvolle Bilder vor dem inneren Auge des Hörers entstehen, die trügerische Schönheit suggerieren. Das Stück lebt von seiner beklemmenden Intensität.
Diesbezüglich dürfte Stanko von seinem Mentor, dem polnischen Jazz-Pianisten und Komponisten Krzysztof Komeda, eine Menge gelernt haben. Im Oktober 1963 findet in Warschau das fünfte "Jazz Jamboree" statt. Der damals 21-jährige Trompeter, der in Rzeszów zur Welt kam und in Krakau studierte, erhielt als verheißungsvolles Talent eine Einladung.
Bei der Veranstaltung standen die beiden zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne, nachdem sie sich ein Tag zuvor erst kennengelernt hatten. Im Anschluss war Stanko Teil des Komeda Quintets, das in einer dreitägigen Session im Dezember 1965 mit "Astigmatic" ein Meisterwerk des Avantgarde-Jazz' aufnahm. Auf der Platte erstrahlte sein von Miles Davis inspiriertes, klares und dunkles Trompetenspiel erstmals in kraftvoller Blüte.
1967 verschlug es Komeda nach Hollywood. Er brachte es mit seinen Soundtracks für die Roman Polanski-Klassiker "Tanz der Vampire" und "Rosemaries Baby" zu Weltruhm. Stanko selbst sagte über seinen Förderer: "Ich spiele im Grunde genommen nur meine eigene Musik, die einzige Ausnahme ist die von Komeda. Er war mein erster Held, und wir haben beide ein ähnliches Verhältnis von Lyrik, Melodik und Simplizität."
"Matka Joanna" prägt entsprechend ein überaus avantgardistischer Ansatz, den die markanten Figuren des "Edgar Allen Poe der Trompete" allerdings nie allzu verkopft daherkommen lassen. Im mehr als zehnminütigen "Matka Joanna From The Angels" skizziert der Pole mit seinen behutsam akzentuierten Klängen, die dennoch von Lebhaftigkeit zeugen, die innere Zerrissenheit der Hauptfigur auf veranschaulichende Art und Weise. Teils begleiten nur nachdenkliche Piano-Töne sein Blechblasinstrument. Ein langes Basssolo in der Mitte lässt dem Hörer zudem genug Raum, um über die Sinnhaftigkeit von Johannas Schicksal zu reflektieren. Antworten gibt der Track allerdings genau so wenig wie der Film.
"Nun's Mood" zeichnen nervösere Trompetenmotive aus, die sinnbildlich für die Verwirrtheit der Nonnen im Kloster stehen. Dazu bereichern Oxley und Jormin mit befremdlich-avantgardistischen Zwischentönen die Nummer um zusätzliche unheimliche Komponenten.
Stanko verfolgte, nachdem sich Komeda in Los Angeles niederließ, unbeirrt seinen eigenen Weg. Er gründete noch 1967 das Tomasz Stanko Quartet um Musiker wie Zbigniew Seifert und Bronislaw Suchanek. Das bezog seine Inspiration aus dem amerikanischem Free Jazz und zählte zu den herausragendsten modernen Bands des Genres in Europa. Nachdem sein Förderer 1969 auf tragische Weise an den Folgen eines falsch diagnostizierten Hämatons verstarb, erweiterte Stanko sein Quartett zum Quintett und veröffentlichte 1970 mit "Music For K" sein Debüt als Bandleader.
Darüber hinaus öffnete er sich stets neuen Entwicklungen und betrachtete sich als Weltbürger, der sich zeitweise in Krakau, Warschau, New York und Skandinavien aufhielt. Mit dem für das Münchener Qualitätslabel ECM im Dezember 1975 eingespielten "Balladyna" avancierte er "auf beiden Seiten des Atlantiks zur Ikone".
"Matka Joanna" markierte knapp zwei Dekaden später seine Rückkehr zu ebendieser Plattenfirma. Die in Oslo in der Obhut von Produzent Manfred Eicher entstandene Scheibe enthält nicht nur Tracks, die sich auf Filmthemen beziehen, sondern auch Neuinterpretation früherer Arbeiten des Polen. Die tun der geisterhaften Stimmung des Werkes absolut keinen Abbruch.
Die älteste Nummer, "Green Sky", stammt aus dem Jahr 1975. Unter dem brodelnden rhythmischen Fundament Oxleys sorgen Stenson und Jormin mit ihren einfallsreichen Soli immer wieder für leidenschaftliche, ausgelassene Kontraste. Davor und danach verleihen die emotionalen Einschübe Stankos, die er im Übrigen bereits auf "Balladyna" auf meisterliche Weise ausformulierte, dem Song eine dichterische Leichtigkeit im Sinne Komedas.
1991 erdachte er sich mit "Tales For A Girl, 12, And A Shaky Chica" eine Suite für Trompete und Synthesizer. Auf "Matka Joanna" befindet sich eine Neueinspielung des Stücks "Tales For A Girl, 12" mit freier Klavier-, Bass- und Schlagzeug-Rhythmik und einem immer wiederkehrenden majestätischen Motiv. Mit "Two Preludes For Tales" beherbergt die Scheibe außerdem eine kahle, minimalistische Variation dieses Tracks für Trompete und Piano.
Dagegen kündet "Maldoror's War Song", in der ursprünglichen Fassung auf "Bosonossa And Other Ballads" enthalten, als melodisches, boppiges Stück, geprägt vom berauschenden Zusammenspiel aller Musiker, von Stankos weltlichem Jazz-Verständnis.
Das von Oxley komponierte "Klostergeist" könnte hingegen kaum noch verstörender klingen. Bei seinem perkussiven Rasseln, Schaben und Kratzen und den verhallten Klaviertupfern Stensons gehen dem Hörer auch noch die letzten Zweifel daran verloren, dass sich in den geheimnisumwitterten Gemäuern von Ludyn auch noch viele sehr schreckliche Dinge zugetragen haben, nachdem der Abspann von "Mutter Johanna von den Engeln" gelaufen ist. Die Atmosphäre des Tracks lässt Assoziationen an Dark Ambient im Stile von Nurse With Wound oder Raison D'Être durchaus zu: ein seltsamer, aber um so eindringlicherer Schlusspunkt.
Mit "Leosia" folgte 1997 ein ungleich ruhigeres Werk des Quartetts, "Litania- Music Of Krzysztof Komeda" widmete Stanko im gleichen Jahr seinem musikalischen Ziehvater. Das Album bescherte Stanko den deutschen Schallplattenpreis. Danach wandte sich der Pole kontinuierlich zugänglicheren Post-Bop-Tönen zu. Mit den Musikern des Simple Acoustic Trios, Marcin Wasilewski, Slawomir Kurkiewicz und Michael Miskiewicz, hob er für die eleganten Geniestreiche "Soul Of Things" (2002), "Suspended Night" (2004) und "Lontano" (2006) ein weiteres Quartett aus der Taufe.
Zuletzt hielt er sich vermehrt in New York auf. Mit dem Tomasz Stanko New York Quartet veröffentlichte er 2017 "December Avenue". Das britische Magazin The Guardian bezeichnete das Werk als "eine Tondichtung, die Gänsehaut erzeugt". Am 29. Juli 2018 schloss der Trompeter in Warschau seine Augen für immer. Sein Krebsleiden hatte die Oberhand behalten. Die filigranen, gleichzeitig dynamischen Klänge, die Stanko seinem Instrument entlockte, überdauern und fungieren als Soundtrack für einsame und verlorene Seelen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare mit 20 Antworten
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Interessantes Album von der Koryphäe des polnischen Jazz.
Erschienen in einer Zeit, in der Jazz ein zwiespältiges Dasein führte: Einerseits in der Nische der Jazzfestivals und -keller verschwunden, andererseits von den DJs als Acid/Nu Jazz für die Disco tanzbar gemischt.
Ein Rückblick auf den polnischen Jazz wäre ohne Würdigung von Komeda undenkbar, dem hier ein paar Zeilen gewidmet werden, aber vielleicht hätte man dem Überalbum "Astigmatic" vorher einen Meilenstein setzen sollen. Ohnehin ist die Jazz-Avantgarde unterpräsentiert: Keine Liebe für Coleman, Ayler und Archie Shepp, "Out to Lunch" oder Brückenbauer John Zorn.
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
Da sagst du was. Man müsste schon bei Dolphy's "Out To Lunch" überhaupt anfangen. Stimme durchaus zu, dass gerade in den 90ern einige Perlen untergegangen sind zugunsten eines tanzbareren, massenkompatibleren Jazz-Sounds, etwa auch die beiden "Made Vecum"-Teile von Oxley von '94.
Noch ein Schritt zurück zu "The Shape of Jazz to Come".
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CAPS LOCK! UM MEINE WUT ZU UNTERSTREICHEN!!!
An den zuständigen Moderator: Danke, ich geb dir einen aus.
Das war Baude, oder?...
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Morpho; Ja, das war ich. Nach 14, 15 Jahren haben sie sich jetzt doch mal getraut, mich hier zu bannen. Ich habe in all der Zeit hier schon WESENTLICH (OMG, Der Schwinger hat einen CAPS LOCK-WITZ GEMACHT!!) heftigere Sachen losgelassen als das beim Namen zu nennen, was dieser feige Ohrenschmalz mit seinen laecherlichen Wikipedia-Postings ist. Kopf so tief im eigenen Podex, dass er nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterscheiden kann.
Ach so, und nochmal gesondert an den Schwinger: Lachkappe, du.
2. Ach so: Props an CAPSLOCKFTW, weil nun mal CAPSLOCKFTW.
jetzt wird man schon gebannt, weil man einen nachkvltenden wikipedia-dirnensproß einen nachkvltenden wikipedia-dirnensproß nennt. Und dafür haben die alliierten gekämpft...
@DerSchwinger
Ich gebe deiner Mama einen aus und es ihr anschließend von hinten. Und dann musst du mich Papa nennen sonst lösche ich deine zusammenkopierte MP3-Sammlung
Oooh, snap.
Du bist nicht minder laecherlich als der Ohrendriss. Aber das weisst du garantiert schon alles selber, Freund.
Lieber "Freund",
wer im nicht-mehr-jungen-Alter Menschen, die er nie getroffen hat, als Spastis bezeichnet, ja nun...da begrüße ich jede Admin-Schelle ungemein.
Sollte bei dir überdies der Eindruck entstanden sein dass ich dich zum Kotzen finde, möchte ich dir keineswegs widersprechen.
Gute Nacht,
Dein Schwinger
Du findest mich zum Kotzen, och. Leider darfst du dich erst zum Rest in die Schlange gesellen, wenn du deine Siffkutte mal ausziehst und deine Fresse mit Minzduft waeschst, Kollege.
Bis zu deiner nächsten Löschung.
Peace Out.
@ohrenschmalz: diese zeit als zwiespältig zu bezeichnen, kann ich nicht nachvollziehen. zweigleisig sicher oder mehrspurig. aber doch nicht zwiespältig. gerade wie sich die verschiedenen formen entwickelten, war und ist doch eine große bereicherung. auf der einen seitew wundervolle berserker wie zorn (von dem es hier im übrigen eine bio gibt) und daneben die newjazz-ikonen, die die das ganze gen club und chill out-ecke modernisieren. deshalb ja auch der molvaer-meilenstein.
das ist doch beides in aller gegensätzlichkeit qualitativ absolut gleichwertig.
Johanna from the Angels klingt schomma jut. Weckt Molvaer und Bohren assoziationen.
Tolle Rezension, werde ich definitiv reinhören! Ich find's immer klasse, wenn derartige Hintergründe zu einem Album aufgezeigt werden!
Danke.