laut.de-Kritik

Hardcore darf träumen.

Review von

Wir leben in seltsamen Zeiten. In Zeiten, in denen man sich rechtfertigen muss, wenn man eine Band wie Turnstile feiert – als hätte man gerade einem Algorithmus den kleinen Finger gereicht. Denn wenn sich eine Hardcore-Band aus dem Schatten der Szene ins Rampenlicht wagt, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen: Gatekeeper, Genrewächter, Nostalgiker. Als ginge etwas verloren, wenn mehr Leute tanzen.

Dabei müsste es doch genau andersrum sein. Müsste es nicht ein Triumph sein, wenn plötzlich Menschen außerhalb der Szene in den Strudel dieser Musik geraten, dieser Energie, dieser Intensität, dieser kathartischen Gewalt? Aber eben: Was außerhalb funktioniert, ist verdächtig. Was catchy klingt, kann kein Hardcore sein. Was bei TikTok läuft, ist per se verdorben.

"Never Enough" ist nicht nur ein großartiges Album. Es ist ein Ereignis. Ein Aufbruch. Eine Öffnung. Und vor allem: Ein Statement. Turnstile zeigen, dass Hardcore mehr sein darf – und sein will – als Krach und Katharsis.

Vier Singles vorab, zwei mehr live bei Jimmy Fallon. Und jetzt ist es da: "Never Enough". Ein Album, das sich keine Sekunde damit aufhält, irgendwem etwas beweisen zu müssen. sondern einfach macht. einfach ist, einfach leuchtet. Und nein: Das ist kein zweites "Glow On". Kein "Nonstop Feeling". Das hier ist eine neue Sprache. Ein neues Kapitel. Vielleicht sogar ein neues Genre.

Der Auftakt ist ein Bild: Blaues Cover, endlose Weite, fast meditativer Stillstand. Und dann: Der Titeltrack. Fast fünf Minuten, in denen die Welt kurz den Atem anhält. Brendan Yates allein mit seiner Stimme und einem Synthesizer – als würde das Album sich strecken, dehnen, langsam wach werden. Und dann der Einschlag. Laut, kompromisslos, farbenfroh. Die Welt explodiert in einem Musikvideo, das mehr Kinotrailer als Clip ist.

Meg Mills, die neue Gitarristin, spielt sich in die Seele dieser Band, kantig, elegant und mit Haltung. Pat McCrory lässt Gitarrenmelodien schweben, fast tänzeln, während irgendwo Synthesizer flirren, als hätte Prince plötzlich Lust auf einen Breakdown bekommen. Und dann dieser Ausklang. Zwei Minuten transzendentaler Schwebezustand. Es ist nicht nur Musik. Es ist Gefühl.

Und so geht es weiter. "Sole": Hardcore mit Hookline, Chaos mit Klarheit. Ein Song, der scheinbar auseinanderfällt und dabei seltsam ganz bleibt. "I Care": Funkiger Groove, der sich in melodischen Keys verliert, nur um mit Distortion und Synth wieder aufzutauchen. Es wirkt so verspielt, dass man fast vergisst, wie kompromisslos es eigentlich ist.

"Dreaming" überrascht mit Bläsern, Hardcore trifft auf Pop trifft auf irgendwas Drittes, das kein Wort kennt. "Light Design" klingt fragil und zärtlich, aber komplex wie ein fein gezogener Linienplan. "Dull" wiederum brettert los, als wollte es die Genreschranken einfach umrennen. Und dann "Sunshower": Ein Monolith. Frühere Turnstile-DNA, aber mutiger, verspielter, skurriler. Flöten im Breakdown? Warum nicht.

Und dann der Gipfel: "Look Out For Me". 6:43 Minuten, in denen alles kulminiert. Der ganze Turnstile-Kosmos in einem Track. Wenn dieser Song ein Film wäre, hätte er alles: Plot Twist, Liebesgeschichte, Apokalypse und ein Happy End. Das letzte Drittel des Albums mutiert dann fast zur Klanginstallation. "Ceiling": fast nur Geräusch. "Seein' Stars": Groove, Gitarrensolo, Echo, alles wirkt plötzlich nach außen gekehrt. "Birds": aggressiver Banger, der dem Albumfavoriten Konkurrenz macht. "Slow Dive": melancholischer Gesang, schwere Riffs. "Time Is Happening": Indie-Rock, als wäre er durch ein Hardcore-Filter gelaufen.

Dann: "Magic Man". Der Epilog. Ein Track wie ein letzter Blick zurück. Als würde die Band nochmal die Tür einen Spalt öffnen und uns ein leises "Bis bald" zurufen. Nichts will hier beeindrucken, aber alles beeindruckt.

Turnstile zeigen mit "Never Enough", was möglich ist, wenn man sich von Erwartungen löst. Wenn man nicht versucht, Hardcore zu sein, sondern einfach Musik macht – mit allem, was dazugehört: Funk, Synths, Melodie, Wahnsinn, Liebe. Das Album ist kein Kompromiss. Es ist kein Ausverkauf. Es ist ein Aufbruch. Turnstile sind nicht mehr nur eine Band, sie sind ein Raum. Ein Ort. Eine Einladung. Hardcore darf tanzen. Hardcore darf träumen. Hardcore darf schön sein. Und Turnstile zeigen, wie das klingt. Mit einem Album, das zwischen den ganz großen rangiert. Mit einem Album, das Türen öffnet.

Trackliste

  1. 1. Never Enough
  2. 2. Sole
  3. 3. I Care
  4. 4. Dreaming
  5. 5. Light Design
  6. 6. Dull
  7. 7. Sunshower
  8. 8. Look Out For Me
  9. 9. Ceiling
  10. 10. Seein' Stars
  11. 11. Birds
  12. 12. Slow Dive
  13. 13. Time Is Happening
  14. 14. Magic Man

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19 Kommentare mit 46 Antworten

  • Vor einem Tag

    Würde dieses Album bspw. von P.O.D., Incubus oder Nickelback (auch eine Roadrunner Band) kommen, würde es wohl nur auf nur wenig Gegenliebe stoßen, aber Dank krassem Hardcore-Hintergrund darf, nein, muss man "Never Enough" natürlich gut finden.

  • Vor einem Tag

    Ist halt sonstwas, aber kein Hardcore. Muss auch nicht.

  • Vor einem Tag

    Der Autor der Rezi wünscht sich mMn zu sehr, dass das Hardcore sein soll.
    Die Gründe warum Hardcore immer "undergroundig" sein sollte bei den "Hardcore"-Hardcore- Fans passen ebenso nicht so in mein Bild davon.
    Größen wie Sick of it all, Madball, Terror habens sogar mit ihren letzten Alben hierzulande in die Charts um Platz 30 herum geschafft. (Terror sogar in die Top Ten)
    Warum muss alles so verwässert werden?
    ...und Alles kann und soll alles sein.
    Warum kann man nicht akzeptieren: Turnstile machen nun Pop-Musik/Pop-Rock. Fertig.? ( Kann von mir aus jeder gut finden und sich dabei Tattoos stechen lassen oder sontwas, aber nennt es bitte nicht Hardcore)
    Von mir aus schreibt: Turnstile haben mal Musik gemacht, die vom Hardcore beeinflusst war oder so... kurz und knapp bitte.

    Das Kind ist zwar schon lange in den Brunnen gefallen,
    irgendwann zwischen den unzähligen "Indie-Bands", die auf einmal ihre Gitarren durch Synthesizer ersetzt haben.
    (Wann war das genau? Bräucht da mal eine helfende zeitliche Einordnung)
    ...und trotzdem als "alternative" durchgehen sollten...
    aber ich fands besser als man Dinge / Musikarten klar benennen konnte und / oder zumindest Genres.
    (...nein damit meine ich nicht unbedingt Schubladendeneken..)
    Der Genreübergreifende "Crossover-Judgementnight-Gedanke" ist richtig und wichtig..., aber... siehe oben...

    • Vor einem Tag

      Mi mi mi kein richtiger Hardcore mi mi früher klare Grenzen mi mi. Geh zurück in dein Dorf der Einfältigkeit.

    • Vor einem Tag

      @Dr_Mubasi Du solltest an deinem Leseverständnis arbeiten.
      Ich habe durchaus begründet dargelegt, was genau ich meine.
      Begründe mir doch bitte warum Turnstile für dich Hardcore sein soll (oder ebend nicht)?
      (Bitte ohne den generischen Einordnungs-verusch / -"Wunschtraum" des Rezi-Autors)

    • Vor einem Tag

      Der Hurensohn kann und wird gar nichts begründen.

    • Vor einem Tag

      Ich halte jeden Versuch, Musik im Jahr 2025 in Genres einzuordnen, für irrelevant. Auch die Rezension von Musik von mäßig oder nicht begabten Schreiberlingen hier auf laut kann ignoriert werden. Abgesehen davon, ist Das Goocher ein Geringverdiener, dessen Aufgabe darin besteht, Platz zu machen.

    • Vor 22 Stunden

      "irgendwann zwischen den unzähligen "Indie-Bands", die auf einmal ihre Gitarren durch Synthesizer ersetzt haben.
      (Wann war das genau? Bräucht da mal eine helfende zeitliche Einordnung)"

      2002, 2005, 2008, 2011, 2012, 2015, 2016, 2017, 2020, 2022, 2023

      (Korg Microkorg, DAW-Durchbruch, Maximo Park, Coldplay, Ableton 9, Tame Impala, Korg Minilogue, Arctic Monkeys, alle daheim vorm Rechner, das Resultat aus alle daheim vorm Rechner, Sleep Token).

      Also immer, irgendwie? Gab's da wirklich so ein Momentum? Ich habe den Eindruck es gab eher so ein paar Anlässe...

    • Vor 22 Stunden

      Wow, vielen Dank für die Auflistung Steinsuppe!
      Momentum trifft es vielleicht besser.
      Irgendwie bin ich dadurch etwas niedergeschlagen...
      Ich mein, es müssen ja nicht immer brachiale Gitarren sein und generell der Einsatz von Synths muss nichts Schlechtes heißen, dennoch sind die Muster bei Band-Metamorphosen oftmals gleich und der Verlust der rawness vom Sound geht einher mit überproduziertem, oftmals gleich klingendem (langweiligem) Output.

      @Mubasi
      Man kann es drehen und wenden, wie man will,
      die Einteilung in Genres wird es immer geben, so lange versucht wird über Musik als solches zu diskutieren, schreiben...usw.
      Es kann auch helfen, wenn man einen bestimmten Geschmack hat und Leute begegnen möchte, die einen ähnlichen Geschmack haben usw.
      Klar gibt es viel Output heutzutage, der poppig anmaßt, aber zum Glück gibt es hier und da Perlen, die sich vom Einheitsbrei abheben.
      Daher kann ich deine Position nachvollziehen, keine Genres, kein Problem oder so...
      Du kannst gerne damit leben, aber interpretier doch nicht meine Aussage als das verkürzte Schubladendenken, das ich direkt ausgeschlossen habe.
      Zum Autor:
      Der Autor hier Herr Dröll hat eine sehr gute Rezi zum Meilenstein der Kill em' all - Platte geschrieben wie ich finde, ebenso der Verriss von der Unantastbar-Platte ist treffend formuliert.
      Bei Turnstile bin ich jedoch nicht bei ihm, ich würde mir aber trotzdem (noch) kein Urteil erlauben, wie begabt er daher ist.
      Vielleicht solltest du auch mehr nachdenken, bevor du etwas schreibst und nicht gleich eine Lanze über alles und jeden brechen, hm?

    • Vor 21 Stunden

      *Edit Ersetze Momentum, durch Anlässe oder wie auch immer... schwer greifbar dat allet.

    • Vor 21 Stunden

      wenn du jetzt auch noch siehst, welche bands aus welchen genres alle im METALsplitter erwähnt werden, platzt in deinem kopf eine ader

    • Vor 17 Stunden

      "Ich mein, es müssen ja nicht immer brachiale Gitarren sein und generell der Einsatz von Synths muss nichts Schlechtes heißen, dennoch sind die Muster bei Band-Metamorphosen oftmals gleich und der Verlust der rawness vom Sound geht einher mit überproduziertem, oftmals gleich klingendem (langweiligem) Output."

      Es gibt ja eine Tendenz, und die ist, wenn man sich für die Veränderung gen Synthies keinen dezidierten Keyboarder an Bord holt, bzw. keiner in der Band in der Lage ist, unabhängig von "das sollte hier mal so und so" schon längst mit Synths umgehen zu können.

      Dann greift idR. der Produzent oder irgendeine Hired Gun in die Tasten und das wird im Endeffekt so gut wie immer artifiziell klingen (jaaaa, ich weiss, Steven Wilson bei Opeth damals hat's hinbekommen...).

      Daneben hast du halt Bands wie Coldplay, wo wirklich jeder seit immer mit den Synthies umgehen kann und Chris Martin am Klavier komponiert (da schiebe ich die Misere vielmehr auf die externen Songwriter). Oder auch Tame Impala, dessen Hinwendung zu Synthesizern völlig organisch von sich ging. Sleep Token nächstes Beispiel, der Mann komponiert recht offensichtlich am Klavier, dasselbe bei Ghost. Oder The 1975, die als Millenial-Band und Hobby-Elektroniker auch schon immer total digital-affin waren. Selbst BMTH holten sich ihren eigenen Elektroniker an Bord für den Switch.

      Oder du bist halt your average Indieband, die vom Label gebeten wird, doch mal bitte etwas moderner zu klingen, oder die halt selbst einen Synthie nutzen will. Aber statt dass sich dann einer wie noch 2002 einen MicroKorg kauft und übt, klickt sich heute irgendeine arme Sau im Studio durch die DAW und kloppt da auf Kommando Noten rein, die man dann live per Playback abfährt. Kann auch Misha Mansoor sein, dem merkt man nämlich auch an, dass er keine Ahnung von Tasten hat und damit seit 2013 jedes Periphery-Album versaut (ausser die Momente, wo Jake Bowen ran darf, der IST nämlich Elektromucker im Nebenverdienst).

      Kein Wunder klingt das dann kacke, bzw. geht die von dir erwähnte "rawness" baden, wenn du vorher eine vierspurige fickdich-fühlmich-Mucke machst, die du dann plötzlich mit 100 Spuren im Studio aufbläst durch Menschen, welche die Sachen gar nicht geschrieben haben und gar nicht intuitiv zum Material relaten können. Wenn der Keyboarder dagegen mit dir Fernseher zum Hotelzimmer rauswirft und oder in der Jugend besoffen in der gleichen Ecke lag, wird der vermutlich auch dann noch authentisch rüberkommen, wenn du ihm klebrigste Popballaden schreibst.

      Wobei, da gibts auch Bands, die am neu für sich entdeckten Instrumentarium einfach nicht funktionieren:

      Steven Wilson witzigerweise bestes Beispiel dafür, der spielt Synthesizer wie jemand, der zwar schon 35 Jahre Klavier spielt, aber nie auch nur ansatzweise an die Nerdyness von Richard Barbieri heranreicht, der quasi in Synthies denkt, oder an das Kaliber von Holzmann, der seit 40 Jahren welche programmiert und dessen Spieltechnik perfekt daran ansetzt. Wilson solo macht Basics auf Basic-Synthesizern, dementsprechend basic klingt es auch.

      Oder Alex Turner, der eines Tages irgendwie Scott Walker sein wollte, sowas ist dann eine eigene Art von Tragödie.