laut.de-Kritik

Katharsis bis zum Anschlag.

Review von

Walter Trout glüht wieder. Emotionalität steht bei ihm oft über Technik und überstrahlt das sowieso schon sehr reife Handwerk. Auch wo das Tempo mal gedrosselt wird (z.B. in "So Many Sad Goodbyes"), bleibt der Eindruck: Trout rauscht zügig durch seine Tracks, weil auf jeden guten ein noch besserer wartet. Da will er zielstrebig hin. Zwei Balladen, "Destiny" und "Follow You Back Home", schneiden als Ausnahmen in die Hochgeschwindigkeits-LP "Ride" ein. In solchen Songs stellt der Amerikaner sich in die Tradition Bob Segers und der Silver Bullet Band.

Der Golden Oldie mit dem schütteren Haar malträtiert seine Stratocaster (und manches Gitarrenjuwel von Delaney) so draufgängerisch, dass er alle Grenzen von Konvention, Formatradio und Standardschemata durchbricht, wegwischt und links liegen lässt. Er wächst über sich selbst hinaus. Seine Liebste, Marke Fender, scheint wie von Zauberhand das Kommando über die Platte zu übernehmen, und beansprucht immerhin 19 ausgedehnte Soli in einem Dutzend Songs.

Der wirkmächtigste Gitarren-Part findet sich im Intro zu "Waiting For The Dawn". Hier schichtet die Sechssaitige lauter atmosphärische Zutaten so lange aufeinander, dass man am liebsten in der Musik baden würde. Wobei all die Guitar Moments hier f***ing great und unverschämt intensiv sind.

Gut 29 Minuten der Platte (also etwa die Hälfte der Spieldauer) lässt der Meister der Schmerz-Vertonung im Form instrumentaler und nicht-übersungener Musik freien Lauf. Dabei beherrscht er ja diverse Ausdrucksnuancen im Gesang. Und er zeigt sie: Von sanft säuseln bis hin zum sich aufbäumen gegen das Schicksal - seine liebste Pose! Röhren und keifen, um all the pain and sorrows raus zu powern - vollbringt er äußerst überzeugend. Seine Theatralik fesselt genauso wie sein Switchen zwischen Gefühlslagen.

Mal schreit er wie am Spieß, mal regiert er souverän über seine Lage. Durch "Waiting For The Dawn" etwa kurvt er gänzlich ruhig und kontrolliert, während das E-Piano und die Hammond mit warmer Aura alles grandios vernebeln. Ein zartes, halb-schnelles Stück, aber eine Ballade mit Charisma!

Dass Walter sich trotzdem nicht verleiten lässt, alle Spielflächen voll zu texten, ist ganz großes Kino. Es beweist sein feines Gespür dafür, wie Hörer*innen hören. Diese Songs hier atmen allesamt. Sie gehorchen nicht den Regularien von Spotify und Hörfunk, bauen sich ohne Radio Edits auf. Oft lautet die Struktur: Ein Intro, in dem Trouts Band ganz bei sich wirkt - anschließend eine locker dargebotene erste Strophe zum Anreißen des Themas - dann erste Instrumental-Taktgruppen und gesangliche Steigerung, wiehernd, krähend, krächzend, röchelnd, angeraut, zweifelnd, verzweifelnd, alles gebend, kollabierend, bis ein sehr ausgedehnter instrumentaler Abschnitt einsetzt.

Der untergliedert sich manchmal in eine allgemeine Instru'-Section und ein E-Guitar-Solo epischen Ausmaßes. Oft bricht die Gitarre direkt los. Die längsten solcher Soli messen 99 und 117 Sekunden Dauer ("Better Days Ahead" und "High Is Low"). Dann nochmal ein kurzer Vokal-Teil. Schließlich Abfahrt in ein weiteres Solo. "The Fertile Soil" ist das einzige Lied der LP, das nicht mit einem Gitarren-Feuerwerk endet, übrigens mit einem Schwenker des Chefs an die Mandoline. Hooklines sind in Trouts Verständnis offenkundig over-rated. Die Platte strengt jedoch trotz dieser fordernden Form nicht an.

Trout baut so viel Thrill auf, dass man wie von selbst bei der Stange bleibt. Zum Beispiel um zu erleben, was als nächstes passiert: Ob er losheult oder laut lacht, alles scheint hier möglich - diese CD ist explosiv. Auf "High Is Low" krakeelt der Blues-Zeremonien-Chef sich die geschundene Seele aus dem Leib - und zugleich die Euphorie darüber, dass er überhaupt (noch) am Leben ist.

Was die Spannbreite betrifft - emotional wie auch stilistisch - legt Trout auf den CD-Vorgänger "Ordinary Madness" sogar eine Schippe drauf. Shaky Rock'n'Roll ("Leave It All Behind", sportlich-elegant arrangiert), Soul-Schmeichelei ("Destiny"), Rockballaden-Diamant ("Follow You Back Home", mit Streichern, Orgel, Piano), stompender Southern Rock-AOR ("High Is Low", "I Worry Too Much"), Satriani-artige Elegie ("Waiting For The Dawn"), Jeff Healey Band stilistisch reloaded ("Better Days Ahead") - alles geboten!

Der 71-Jährige übertrifft noch einmal ein bisschen seine vorigen Leistungen. Sogar eine Entwicklung ist also erkennbar. Ein entscheidender Kniff liegt in der Dramaturgie: Den Closer, "Destiny", hat man sich irgendwie 'verdient', wenn man den heftigeren Stücken zuvor gelauscht hat. "Destiny" schafft es, das Album noch - tja - "abzubinden", um Anne Spiegels Unwort des Jahres mal zu gebrauchen. Hier passt es. "Ride" ist eine runde Sache. Steckt voller Katharsis. Ans Grafikdesign der Verpackung könnte man indes noch Hand anlegen.

Dass die Texte dann auch noch Sinn ergeben, dass sie gut Stimmungen beschreiben, dass sie essenzielle Gedanken ohne Phrasen-Blablu darlegen und dass sie aus dem Leben gegriffen sind - das alles verleiht der Scheibe den letzten Feinschliff. Unmittelbare Gefühlsechtheit verknüpft sich clever mit der spielerischen Umsetzung. Walter Trout gelingt ein erneutes Meisterwerk.

Trackliste

  1. 1. Ghosts
  2. 2. Ride
  3. 3. Follow You Back Home
  4. 4. So Many Sad Goodbyes
  5. 5. High Is Low
  6. 6. Waiting For The Dawn
  7. 7. Better Days Ahead
  8. 8. The Fertile Soil
  9. 9. I Worry Too Much
  10. 10. Leave It All Behind
  11. 11. Hey Mama
  12. 12. Destiny

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