laut.de-Kritik

Worldwide Female Reggae Trance von Arabisch bis Yoruba.

Review von

Eine der namhaftesten Frauen der Punkbewegung, Ari Up mit ihrer Band The Slits, liebte die Musik Jamaikas und arbeitete seit den '80ern oft mit dem Londoner Dub-Produzenten Adrian Sherwood zusammen. Kurz vor ihrem (allzu frühen) Tod entwickelte sie mit ihm eine Idee für mehr Diversity in der Reggae- und Dub-Szene: einen Sampler, auf dem nur Frauen aus diversen Ländern oder Engländerinnen mit Migrationshintergrund singen, wobei sie die Songs in verschiedensten Sprachen selbst schreiben und einige der Artists auch selbst die Melodie-Instrumente von Geige bis Keyboards spielen. Dieser Sampler erscheint nun nach extrem langer Vorarbeit zum zwölften Todestag von Ari. Mittlerweile ist auch der Drummer, der auf etlichen Aufnahmen noch zu hören ist, Style Scott, schon nicht mehr unter uns. Der legendäre Taktgeber der gefragten Backing-Band Roots Radics und des Dub Syndicate verewigt sich letztmalig und garantiert den perfekten Beat.

Sherwoods Roots-Arrangements mit Dub-Effekten haben eher am Rande mit Dub zu tun. Im Mittelpunkt stehen die Stimmen und fremden Sprachen. Zwei von ihnen, Maria Wenda und Nadya Ostroff, erklingen mit Autotune-Effekt, der völlig 'fachfremd' im dubbigen Milieu und auch nicht die beste Wahl ist. Mit Blick auf die interessanten Lebensläufe ist das aber verständlich. Denn nicht jede Mitwirkende hat sich hauptberuflich dem Gesang oder diesem Genre verschrieben. Nadya Ostroff hat einen Doktortitel und heißt dank ihrer Initialen Dr. No. Die Wissenschaftlerin an der University of Creative Arts in Rochester (nahe New York) hat osteuropäische Wurzeln und singt Russisch. Sie unterrichtet Studierende der Fächer Modedesign, Wirtschaftslehre auf den Feldern Juwelen und Luxusgüter, Marketing und Promotion von Mode. Sie betrachtet Fashion-Influencer durch die akademische Brille. Ihr Beitrag "Little Cosmonaut" hat eine warme, tief gehende, atmosphärische, geheimnisvolle, harmonische Ausstrahlung und gründet sich auf einen Kontakt, den Produzent Adrian vor 15 Jahren in England zu ihr knüpfte, als sie neben Ari Up und Hollie Cook als Gitarristin eine der Slits war.

Asiatischen Hintergrund hat Chacha Yehaiyahan. Die Keyboarderin aus Shanghai zeigt auf ihrem Soundcloud-Profil donnernde Rock-Riffs, sphärischen Ambient, kühle Broken Beats und elektronischen R'n'B und bezeichnet ihr Material als China-Soul. Mit Text tritt sie weniger in Erscheinung als an den Tasten. Zu "Dub No Frontiers" trägt sie das raffinierteste und Dub am nächsten stehende Stück auf Chinesisch bei, übersetzt "Liebe schmerzt". Das Lied regt die Fantasie an, hat ein bisschen was von Lounge, aber nicht im 'billigen' Sinn, sondern durchaus positiv und relaxend. Yehaiyahans Tune sticht hier als der modernste, elektronischste heraus. Gut eingesetzte Hall-Reverbs veredeln das stringente Stück.

Maria Wenda lebt in England, weil sie in ihrer Heimat Indonesien als Aktivistin einer separatistischen Bewegung politisch verfolgt wurde und heimlich floh. Mit den Lani Singers brachte sie dann ihre ethnische Sprache Lani nach Europa. Unter jenem Namen Lani Singers musiziert sie normalerweise Folk mit akustischer Gitarre und einer hohen schmalen Trommel namens Tiva. Hier nun findet sie sich erstmals in einem typischen erdigen Roots-Arrangement wieder und macht in "Okama Werrek Halok" eine polarisierende und inmitten von Adrians Fiep-Beep-Effekten sehr gute Figur. Trotz Auto-Tuning erfrischend!

Rita Morar singt in London auf Hindi. Sie hat in den letzten Jahren UK-Dubstep- und Bollywood-Filmen ihre Stimme geliehen, und ihr erster Reggae-Track "Meri Awaaz Suno" betört. Party-Euphorie und Melancholie liegen da ganz nah beieinander. Besonders reizvoll kitzelt die Rasta-Musik auf Japanisch das Ohr ("Likkle Mai - Haste Makes Waste"), auch wenn manch eine*r aufschreien, Exotismus und kulturelle Aneignung wittern mag. Reggae ist genauso wie Metal, Rock und Hip Hop eine weltweite Sache mit nur wenigen weißen Flecken auf dem Globus geworden.

Gleichwohl mehrere Beteiligte stilistisch fremdes Terrain betreten, stehen sie zusammen doch für mehr weibliche Präsenz, Sichtbarmachung von ethnischen Minderheiten oder popkulturell übersehenen Erdteilen ein. Und für Abwechslung, die nicht nur stimmlich und linguistisch, sondern auch in verschiedenen Tempi, Klangfarben und Stimmungen zum Ausdruck kommt. Die Schottin Kerieva McCormick, die in einer Romani-Sprache singt, meint über die Compilation und ihren Song: "Weibliche Künstlerinnen, die nicht nur in indigenen Sprachen singen, sondern selbst auch schreiben, sind powervoll. Der Text und die Geigen-Abschnitte in "Chavale" sind ein ermutigender Aufruf zur Emanzipation."

Jedoch: Was wäre so ein Projekt ohne den guten alten Bob? Badiaa Bouhrizi unter dem Künstlerinnamen Neyssatou, Singer/Songwriter aus Tunis, belebt das wunderschöne "War" - eines der genialsten Reggae-Lieder, die je geschrieben wurden, aus dem überwältigenden "Rastaman Vibration"-Album. Neyssatou bisher nicht zu kennen, ist eigentlich schade. Seit 1998 spielt sie in Bands. Neben Reggae nutzt sie sonst Elemente der arabischen Klassik, Funk und gerne harten und progressiven Rock. Ihr Beitrag auf Arabisch entfremdet so extrem von Bob Marleys Vorlage, dass ein neuer elektrisierender Song entsteht. Dessen behutsamer Spannungsauf- und abbau führt ganz großes Roots-Kino auf.

Ein deutscher Beitrag im äthiopischen Tigrinya ist vertreten und betont mit der soulvollen Stimme Saba Teweldes die Soul-Wurzeln des Reggae, die Marley, Cliff, Toots und anderen Urvätern stets so wichtig waren. Saba lebt im Süden von Deutschland und sorgt mit "Semarulay Daqey" in tänzelndem Gesang für einen weiteren Anspieltipp neben "War".

Außer Tigrinya, Japanisch, Chinesisch, Hindi, Lani, Russisch, Romani und Arabisch kommen auch Yoruba ("Temi Oyedele - I Dupe") und Polnisch ("JaGodDa - Krysztalowy Aniol") zum Einsatz. Peter Gabriels Label-Idee, mit Real World die verborgene asiatische Musik anzuzapfen, Fremdes und Vertrautes zusammen zu bringen und den Planeten so 'real' und bunt zu zeigen, wie er ist, geht wieder einmal auf. Wie bei früheren Real World-Releases der Fall, fordert auch "Dub No Frontiers" beim Hören heraus und verlangt ein bisschen Toleranz, weil nicht jeder Abschnitt sofort eingängig ist. Lässt man sich darauf ein, bereichert Sherwoods Sammlung jedes Plattenregal. Denn gerade dadurch, dass niemand all diese Texte verstehen wird und die linke Gehirnhälfte beim Hören ein bisschen Pause hat, entfaltet sich der Trance-Effekt der Musik sehr gut.

Trackliste

  1. 1. Yehaiyahan - Love Hurts
  2. 2. Likkle Mai - Haste Makes Waste
  3. 3. Rita Morar - Meri Awaaz Suno
  4. 4. Temi Oyedele - I Dupe
  5. 5. Neyssatou - War
  6. 6. Maria Wenda - Okama Werek Halok
  7. 7. Kerieva - Chavale
  8. 8. JaGodDa - Krysztalowy Aniol
  9. 9. Saba Tewelde - Semarulay Daqey
  10. 10. Nadya Ostroff Dr. No - Little Cosmonaut

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