laut.de-Kritik
Ein langes U für die Urschrei-Therapie.
Review von Philipp Kause"Das Universum Schlägt Zurück", könnte man meinen, wenn man mit leichter Muse so gar nichts am Hut hat und diese seichte Platte registriert. Der so betitelte Track erzählt: "Das Universum schlägt zurück / du hast dein Leben selbst gefickt. (...) Ich mach mir einen Schampus auf / und lass den Dingen ihren Lauf." "Babyblue" ist nicht die Reinkarnation jener Art von Chanson, die in Frankreich mit Sozialkritik, ausgeklügelten Metaphern, großen Geschichten zu tun hatte. Annett Louisan ist zwar jetzt fast zwei Jahrzehnte in diesem Metier aktiv. Sie beschränkt sich aber darauf, im Glanze dieses Genres als eine der wenigen deutschen Vertreterinnen herauszuragen.
Als Geste und Symbol von Easy Listening-Revivals lässt sich immer noch eine gewisse Sympathie für Annetts gezieltes aus-der-Zeit-Fallen aufbringen. Daran hilft dieses Mal Tim Tautorat als Arrangeur vieler Instrumente zur Belebung der '60er-Jahre-Anteile. Manchmal schwingt Rembetiko mit. Eine Zither unterstützt das Auskosten von Schwermut in etliche Tracks.
Der Spannungsbogen der LP ergibt im Wesentlichen eine gerade Linie. Nach unten. Bald nach einem teils schönen, teils holpernden, halben Leonard Cohen-Cover von "Hallelujah" ("Hallo Julia"), wo nur die Hookline übernommen wird, nimmt sie einen ersten Abwärtsknick. Ab der Mitte gibt man beim besten Willen auf, weitere Ideen zu erhoffen, und das Album saust mit steter Wiederholungsschleife und stumpfer Peinlichkeit steil in die Senke.
Der CD-Einstieg verblüfft als direkter Griff in die Kabarett-Trickkiste. Kralle dir ein Thema, bei dem viele mitlachen können, dann sind auch Witze über Geschlecht oder Alter massentauglich. Annett wählt das Alter. "Das sind jetzt die mittleren Jahre (...) früher sind die Menschen mit 40 gestorben / und sparten sich so die Therapie." Trotzdem will Annetts verzweifeltes Song-Ego "nicht wieder 20 sein."
Die Sängerin klingt stimmlich naiver als die meisten 17-Jährigen und wird beim Thema nicht konkret. So bleibt's durchweg, die Texte reißen skizzenhaft irgendwelche Stichwort-Sammlungen auf und erzählen in der Regel nur Bla-Bla mit kokettem Augenaufschlag. Man "dreht sich und dreht sich / und keiner versteht dich / auch ich nicht" - na, wenn sie meint. Ich verstehe sie ja auch nicht wirklich. Und an den Stellen, an denen die hingeworfenen Stichwort-Brocken und qualvollen Reime verständlich sind, reißen sie deswegen noch lange nicht vom Hocker.
In "L'Amour" erfahren wir zu eigentlich schöner Klaviermusik: "Der Sex war doch gut." Der sprunghafte Text, der wie ein unkonzentrierter WhatsApp-Dialog zerfasert, wirkt wie einem Milieu entsprungen, in dem die Leute zu viel Zeit haben und sich aus saturierter Langeweile mit spätpubertären Spielchen aufhalten. Das Wort "L'amouuuuuu uuuuuuu uuuuuuuuuur" wird im Liedverlauf immer länger. Annett überdehnt es theatralisch, sie kommt dabei aber nicht gerade wie die deutsche Carey rüber. Hört sich eher an wie eine Übung aus dem Katalog der Urschrei-Therapie. Ohne Kontext verpufft das Gekreische, banal und bedeutungslos. Louisan singt viel und verrät wenig.
Das Titelstück "Babyblue" ist nett für nebenbei, angenehm, vergleichsweise leiser, stört nicht - kann man skippen oder leiern lassen, egal. Den inhaltsleeren Schlager "Zuckerbrot Und Peitsche" sollte man skippen, außer man findet Michelle Weltklasse-Maßstab. "Ich lieb dich, wenn du mich nicht liebst / wenn du mich nicht liebst, lieb ich dich umso mehr." Unterlegt ist diese Sülze mit einem typischen Filmmusik-Arrangement.
Als Füllmaterial und anscheinend Arbeitsbeschaffung für ein Streichorchester quasselt Louisan ein paar Minuten in "Blutsschwestern" die Takte voll. Erkenntnisse: "Stille Wasser sind tief, aber unsere sind tiefer" oder "Lügen haben schöne Beine / und wir haben darin Perfektion." Selbst tautologische Pressemitteilungen von Annalena Baerbock (wir listen eine Liste (...) in der Terror-Listung") zeitigen da doch etwas mehr Aussagekraft.
Für "Große Hände" hebt die Wahl-Hamburgerin zur Abrechnung mit Fake News und Populismus ab. Dabei hakt es mit der Symmetrie von Metaphern und Bezugswörtern: "Und irgendwo tief in der Erde / werden unschuldige Dackel verführt / wo ein rechter Reptilienmensch an ihnen die Unschuld verliert. / Doch ich sag euch: Diese Leute / die belügen euch nur / denn es gibt nur genau diese eine Wahrheit / und die bekommt ihr von mir. // Finger weg von Männern mit großen Händen / lass dich nicht von ihnen blenden (...) Denn das kann nur böse enden." Weitere Reime auf 'Lenden' und 'Samen spenden' machen den Song weder witzig noch geradliniger. Mit Sarkasmus und Satire hat's diese ganze Platte nicht so, obwohl sie krampfhaft auf diese Schiene hinaus zu wollen scheint. Doch dazu fehlen ihr Stringenz, Biss und Timing.
Was sich seit Louisans letztem Album letztem Album verändert hat: "Kitsch" war 2020 noch ein selbstironischer Titel. "Babyblue" erfüllt nicht mal die Definition des 'Kitsches', überflüssig und übertrieben romantisierend, sentimental und gekünstelt bis geschmacklos emotional zu sein. "Babyblue" ist einfach langweilig. Kann nebenbei laufen, ohne aufzufallen, eiert ereignislos. Handwerklich ganz gut, aber Grundrauschen für nebenbei - das ist künstlerisch genauso gut wie knapp vorbei. Die CD unterhält nicht, sie steht lediglich für ein Bohème-Lebensgefühl.
Louisans Lifestyle hat den Radius altbackenster Frauenzeitschriften. Die Musik dazu klingt glatt geschleckt und erinnert an Pralinen in einer Plastikschachtel: pappsüß, mühsam heraus zu schälen. Man muss sich viel Mühe geben, Zugang zu diesen 'Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste, Klügste, Beste im ganzen Land?'-Texten zu entwickeln.
5 Kommentare mit 10 Antworten
Ohh, was für die einen eine "süße, feenhaft unschuldige Stimme" ist, ist für andere nur Gequietsche am Rand des Unerträglichen.
Grässlich!
Musik für die Schnapsleichen gespielt in den furchbarsten Kamschemmen des Landes nachts um halb 5.
Grausich. Die Dame hatte noch nie was mit Chanson zu tun, egal wie sehr die Presse und ihr Management das wollen.
Album wird nicht angehört, aber ich möchte den Anlass nutzen, um die Community nach ihren favorisierten deutschsprachigen Alben aus dem Genre des Chanson auszufragen. Ob gestern erschienen oder 90 Jahre alt ist mir hierbei egal.
Udo Jürgens - Udo 75: Ein neuer Morgen
Max Richard Leßmann - Liebe in Zeiten der Follower
Casio Rakete - Bolero 83
Tristan Brusch - Am Rest
Hermann van Veen - Blaue Flecken
Kommt auf die Genregrenzziehung an, würd ich sagen. Interpretiere das jetzt einfach mal recht frei, weil ich erstens engere Definitionen davon nie recht verstanden habe und zweitens eh quasi alles zuvorderst mit anderen Etiketten beklebt hätte:
Chanson im Sinne von / an der Grenze zum Schlager:
Alexandra - Illusionen
Äußerlich trashige Compilation, die stärksten Titel stammen zweifellos vom hiesigen st-Meilenstein, hier sind natürlich auch ein paar Oseuropa-Klischee-Kitsch-Füller dabei. Die stören mMn wegen des ohnehin durchgehend leicht verdaulichen Charakters der Musik aber kaum, persönlich finde ich es auch ganz reizvoll, die jeweilige Phase rauszuhören (oder eben auch nicht). Außerdem erschwinglich aus jedem im besten Sinne schlecht sortierten Grabbeltisch ziehbar.
Hildegard Knef - Knef
Siehe zugehöriger Meilenstein. Meine Lieblingstitel sind ehrlich gesagt schon die etwas oppulenter instrumentierten, aber die ruhigeren Stücke machen schon auch was her.
Chanson im Sinne von / an der Grenze zum Protestsong/Kabarett:
Hannes Wader singt Arbeiterlieder
Trotz gewisser Bauchschmerzen (siehe meinen Roman unter dem hiesigen Meilenstein) eine tolle Scheibe
Georg Kreisler
Mangels Kenntnis kein bestimmtes Album (mein einziges, Fürchten wir das Beste, empfehle ich nur bedingt, weil andere Versionen der vertretenen Lieder mir besser gefallen und ich andere inhaltlich auch widerspruchsfähig finde), aber er muss hier einfach genannt werden
Chanson an der Grenze zur Volksmusik:
Andrea Pancur - Zum Meer (Alpen Klezmer)
Ok, ist ein Stretch, aber das sind schon auch von der Sängerin getragene Lieder mit musikalischer Begleitung (in dieser Rangfolge). Und ein so wunderbarer Stilmix, dass es eh nicht oft genug in irgendwelche Listen gemogelt werden kann.
Kerners Kombo - Is Leddsde Seidler
Braucht ebenfalls ein zugedrücktes Auge für die Listeneignung, hier ist neben fränkischen Mundart-Texten mit Hans-im-Unglück-Attitüde noch eine Melange aus beschwingtem Blues, Easy Listening Jazz, Rock und ähnlicher Firlefanz geboten. Vor allem aber ein Banger nach dem anderen. Mörderalbum, mein voller Ernst.
Ringsgwandl - Vogelwild
Und hier sinds dann vielleicht sogar eineinhalb. Sein Sprechgesang ist stellenweise zugegeben relativ weit weg von dem was man sich landläufig unter "Chanson" vorstellt, die Bowie-inspirierten Jazz-Pop-Rock-Elemente der Mucke dazu sowieso. Aber die ist eben toll, es sind fantastische Texte (Ausnahme Hoasse Nudel) und das mMn sein bestes Album. Genügt mir.
Chanson im Sinne von / an der Grenze zum Pop/Rock:
Tristan Brusch - Am Rest
x2, weil toll, siehe auch hiesige Rezi
Element Of Crime - Romantik
Seh ich auch selber gar nicht als Chanson, ist aber bestimmt anteilig davon beeinflusst, wird manchmal so geführt und gibt mir außerdem die Gelegenheit, hier meinen Take für ihr stärkstes Album unterzumogeln.
Chanson im Sinne von Singer/Songwriter-Geklampfe:
Reinhard Mey live (1970)
Neben der Geld oder Leben (EAV) mein erstes Lieblingsalbum, ebenfalls weils mein Vadder ständig angemacht hat. Manches, was mich aus heutiger Sicht an ihm (also Mey) ein bisschen nervt, ist hier auch schon vertreten, entsprechend gefällt mir auch nicht jede Nummer. Aber nicht wenige Ohrwürmer werden mich wohl ins Grab begleiten, vieles finde ich noch heute sehr schön, manches auch ganz witzig.
Klaus Hoffmann - Ich Will Gesang, Will Spiel und Tanz
Wahrscheinlich der klassischste Genre-Fit, den ich anbieten kann. So klassisch, dass ein Teil der Lieder schlicht Brel-Übersetzungen (mit auch musikalisch sehr originalgetreuer Interpretation) sind. Kann man sicher drüber streiten, welchen Mehrwert das hat, ist mMn aber in jedem Fall sehr gut gemacht und das sind auch beileibe nicht die einzigen starken Nummern auf dieser (schon wieder Live-)Scheibe.
Danke für die ganzen Tipps. Vieles kannte ich noch gar nicht. Das wird jetzt gecheckt. Die verschiedenen Mundart Sachen von Kubi klingen spannend und Romantik als bestes EOC Album finde ich eine mutige Aussage
Das Max Richard Lessmann Teil habe ich wegen der positiven Review hier mal gehört und als whack abgestempelt, ist aber auch durch seine schrecklichen Insta-Gedichte beeinflusst und irgendwie hat der so unangenehme Industrieheini Vibes.
Aber natürlich die einzig richtige, gell?
Im Ernst, was setzt du denn auf die Eins (wenn wir schon dabei sind)?
Jetzt, wo ich am Zug bin, fällt mir die Antwort darauf gar nicht so leicht. Vielleich die Immer da wo du bist bin ich nie. Ich mag das Spätwerk am liebsten, weil da so eine angenehme Schlurfigkeit durchscheint. Romantik finde ich irgendwie spröde und kalt. Insgesamt aber auch so ne Band mit vielen tollen Songs im Repertoire, bei der ich kein Album wirklich outstanding finde.
Ringswandl geht mir übrigens gut rein
Cool, freut mich ehrlich sehr, zumal es seine Musik meinem Eindruck nach eigentlich nie so recht in "unsere" (geschweige denn noch jüngere) Generation(en) hineingeschafft hat und perspektivisch ein bisschen unter Vergessensgefahr steht, außerhalb Bayerns sowieso. Bin auch selber nicht ganz schuldlos dran, kenne zB keine seiner Sachen aus diesem Jahrtausend
Das mit dem Spätwerk ist ganz witzig, weil ich eigentlich immer ähnliches von mir behauptet hab, nur dass Romantik für mich schon darunter fiel (mittlerweile diesem Status zugegeben natürlich eher entwachsen). Den Nachfolger Mittelpunkt der Welt, würde ich entsprechend auch an 2 setzen. Auf den aus heutiger Sicht wirklich jüngsten Alben ist es mir mit der Schlurfigkeit (schönes Wort, gerade für die Band sehr passend ) dann allerdings eher ein bisschen zu viel, da läuft es für mich mittlerweile überwiegend auf das Fischen einzelner Perlen hinaus (Schade, dass ich das nicht war; Wenn es dunkel udn kalt wird... zB). Aber weil es die immer gibt, freu ich mich unbedingt auf jeden Release.
Äh, zweiter Absatz bezieht sich auf EoC, hätt ich vll. dazu schreiben sollen.
erinnert ihr euch, wie die mit ende 20 eine 13yo gelarped hat? ja, ich auch nicht... aber das ist auch schon 20 jahre her