laut.de-Kritik

Die Genre-sprengende Neuerfindung der New Yorker.

Review von

"Ich ging zu Tower Records und sie hatten es nicht einmal im Regal stehen". Ein niederschmetternder Moment für Ad-Rock. Er und seine Mitstreiter von den Beastie Boys waren gerade erst in atemberaubender Zeit von einer unbekannten Punk-Band zu einer der angesagtesten Rap-Gruppen des Landes aufgestiegen. Aus dem Stand verkauften drei jüdische Kids Millionen Einheiten ihres Debüts "Licensed to Ill", die albernen Videos zu "Fight For Your Right" und "No Sleep Til Brooklyn" liefen auf MTV rauf und runter und zementierten das Image einer leicht prolligen Clowns-Truppe.

Ihr Label Def Jam drängte sie so weit in die Ecke, bis endgültig keine Grenze mehr zwischen Parodie und Realität erkennbar war. Die Konzerte zogen immer mehr Asi-Publikum an, die das bewusst übersexualisierte Clown-Image für bare Münze nahmen und die Tour in eine emotionale Geisterbahn verwandelten. Angewidert von sich selbst, den Fans und all dem zogen die Beastie Boys die Reißleine und flüchteten aus ihrer Homebase Brooklyn an die Westküste. Einfach wieder den Boden unter den Füßen spüren, nach dem Raketenstart vom Debütalbum. Adam "Ad-Rock" Horovitz wechselte erst einmal die Seite und nahm eine Filmrolle in dem Indie-Film "Lost Angeles" an. Eine Indie-Produktion, die nur in ein paar Kinos lief und trotz guter Kritiken schnell in Vergessenheit geriet.

Nicht die erste kommerzielle Talfahrt, wie die Anekdote von Ad-Rock zeigte. In ihrer jugendlichen Unbedarftheit dachten sie wirklich, dass sie die Welle des Erfolges einfach so weiter surfen konnten. Doch der Nachfolger "Paul's Boutique" lag wie Blei in den Regalen, chartete in der ersten Woche auf Platz 14 und verschwand schnell. Die Entscheidung der Band, dieses Album vorab ohne Interview oder größere Promo zu veröffentlichen, war auch nicht hilfreich. Mit etwas weniger Enthusiasmus und mehr Reife hätten sie es ahnen können.

"Paul's Boutique" hatte keine weitere Party-Hymne oder irgendwas, das als Radio-Single taugte. Freiheit schwebt als großes Wort über dem Album, was einst als großer, kommerzieller Schiffbruch anfing und dennoch über alle die Jahre zu einem verdienten Meilenstein heranwuchs. Genau den gleichen Begriff verwendete auch Thom Yorke einmal über Radioheads radikalen Kurswechsel mit "Kid A". Die Beastie Boys waren allerdings weniger verkopft, sondern eben doch noch drei jugendliche Nerds, die stundenlang in Plattenläden hingen und später begeistert ihre Errungenschaften referierten. Auch wenn die Landung in L.A. bei keinem der Boys sofort größere Erfolge brachte, fanden sie dort schnell Anschluss an die kreative Szene. Auf der Party eines guten Freundes traf Horovitz zwei andere Nerds, die genauso wie sie absolute Musik-Enthusiasten waren und auch so einen breit gestreuten Musikgeschmack über Genegrenzen hinaus besaßen.

Ähnlich wie die Jungs aus New York begannen auch die Dust Brothers erst als krawallige Punkband, nur um dann schnell von diesem neuartigen, aufregenden Hip Hop-Sound schnell infiziert zu werden. Gerade erst produzierten sie aufstrebenden Newcomer Young MC und Tone Loc, als sich die Möglichkeit bot, mit einer ähnlichen jungen Crew noch viel weiter zu gehen. So entsteht innerhalb von ein paar Tagen "Shake Your Rump". Ein Funk-Rap-Bastard mit unzähligen Samples von Led Zeppelin bis zu Afrika Bambaata. Wo die Demo-Version der Dust Brothers noch nach einem Party-Jam klingt, kam durch die Rap-Partys eine Härte hinzu, die den Track noch weiter nach vorne pusht.

Eine Blaupause für die Neunziger, in denen die Chemical Brothers - die sich tatsächlich anfangs noch selbst Dust Brothers nannten - ihre eigene Arbeit auf die Spitze trieben. "Shake Your Rump" zeigte aber auch, dass die Visionen des Duos und der Boys nicht immer auf einer komplett gleichen Wellenlänge lagen. Die Dust Brothers wollten eigentlich ihre Stücke in die Disco bringen, die Beasties dagegen alles vermeiden, was sie wieder dorthin wieder zurückbrachte.

Vielleicht hat es die Dust Brothers dermaßen frustriert, dass sie Jahre später den unerträglichen Hanson-Ohrwurm "MMMbop" und damit einen (nervtötenden) Welthit produzierten. Doch zuvor schafften sie den Zaubertrick, aus der lahmen Glam-Rock-Gruppe Sweet das Experimental-Rap-Monster "Hello Brooklyn" zu destillieren. Es könnte mit dem hämmernden Industrial-Beat ebenso ein Song der Nine Inch Nails oder ein aktueller Song von Jpegmafia sein.

"Hello Brooklyn" ist ein Teil des neunminütigen Album-Abschlusses "B-Boy Bouillabaissese". Eine wilde Mischung, in der Beastie Boys endgültig alles hinter sich lassen und gerade Adaam Yauch in "A Year and A Day" zur Höchstform aufläuft. Hier erkennt man bereits Anflüge von dem selbstreflektierten Mann, der später die erwachsene Stimme der Beastie Boys wird. Er selbst sieht in dem Song ein spirituelles Erweckungserlebnis. Yauch wird in den nachfolgenden Jahren die erwachsene Stimme der Beastie Boys und spricht sich später noch einmal in "Sure Shot" gegen Sexismus aus."I want to say a little something that’s long overdue / The disrespect to women has to got to be through / To all the mothers and sisters and the wives and friends / I want to offer my love and respect till the end". Angesprochen, ob das nicht heuchlerisch von jemand wäre, der Jahre vorher noch selbst Sexismus abbildete, sagte er: "Ich gelte lieber als Heuchler, als für immer ein Zombie zu bleiben.". Mit seinem Tod verlor Hip Hop eine seiner vernünftigsten und wichtigsten Stimmen.

Genau so verschlungen wie die Anzahl der Samples und der Quellen sind auch die Lyrics. Eine unzählige Anreihung von popkulturellen Zitaten, die sich um 70er-Jahre-Idole, Inside-Jokes und Slangwörter dreht. Die Platte ist ein Trip, auf dessen Wahnsinn sich damals nur wenige einließen. Allein "5-Piece-Chicken-Dinner", eine freche Bluegrass-Country-Verarsche, ließ sich kaum noch an Schwachsinn überbieten. Und das gerade mal ein Jahr, nachdem Compton gerade den absolut unironischen Gangsta-Rap erfand. Public Enemy- Mastermind Chuck D. lobte immer wieder die innovative Arbeit und wie sehr es in abnervte, dass die schwarze Hip Hop-Community dieses Album fast als Provokation ansah oder erst gar nicht darüber redete. Drei privilegierte, jüdische Weiße, die mit den Regeln des Hip Hop-Genres brachen, waren für viele ein Affront. Dabei veröffentlicht der weiße Rapper Vanilla Ice nur kurz darauf mit "To The Extreme" eines der lächerlichsten, aber auch erfolgreichsten Alben der Hip Hop-Geschichte.

Die Beasties luden dagegen auf eine Grenzen sprengende Event ein, in der die Eagles und Johnny Cash plötzlich einen Headspin vollführten und James Brown plötzlich die Pilzfrisur der Beatles trug. Diese konsequente Art der Neu-Kontextualisierung trat die Tür zu den Neunzigern weit auf, aber auch das Image der Beastie Boys war nun neu fragmentiert. Dabei gingen drei Jungs aus Brooklyn 1989 mutig voran und spielten anfangs auf einer einsamen Party, doch jeder der daran teilnahm, konnte durch ihr buntes Musik-Kaleidoskop die Zukunft sehen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. To All The Girls
  2. 2. Shake Your Rump
  3. 3. Johnny Ryall
  4. 4. Egg Man
  5. 5. High Plains Drifter
  6. 6. The Sounds Of Science
  7. 7. 3-Minute Rule
  8. 8. Hey Ladies
  9. 9. 5-Piece Chicken Dinner
  10. 10. Looking Down The Barrel Of A Gun
  11. 11. Car Thief
  12. 12. What Comes Around
  13. 13. Shadrach
  14. 14. Ask For Janice
  15. 15. B-Boy Bouillabaisse
  16. 16. 59 Chrystie Street
  17. 17. Get On The Mic
  18. 18. Stop That Train
  19. 19. A Year And A Day
  20. 20. Hello Brooklyn
  21. 21. Dropping Names
  22. 22. Lay It On Me
  23. 23. Mike On The Mic
  24. 24. A.W.O.L.

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3 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 19 Tagen

    Das waren noch schöne "musikalische" Zeiten. Alles neu und noch nie in der Form davor gehört. Musik komplett neu erfunden. Heute fast undenkbar.

    Wunderbar. Grandios.

  • Vor 17 Tagen

    ja, sie haben vieles anders gemacht. Aber das geringe Interesse an diesem Album ist vielleicht auch dem geschuldet, dass die Songs an sich nicht so gut sind.

    • Vor 17 Tagen

      Ja, nicht so gut als Singles. Einen Hit kann man hier im Gegensatz zu den Nachfolgern und dem Vorgänger nicht finden. Ich habe dennoch immer sehr viel Spaß beim Hören dieser wilden Achterbahnfahrt und Songs wie Johnny Ryall, The Sounds of Science und Car Thief sind für mich Perlen in ihrer Diskografie.

    • Vor 16 Tagen

      Hey Ladies ist für mich schon einer der klassichen Beasties Hits. War mir aber gar nicht mehr bewusst, dass der Song auf Pauls Boutique drauf ist.

    • Vor 16 Tagen

      Ja stimmt schon. Immerhin hat er es auch auf die Solid Gold Hits geschafft. Ausnahmen bestätigen die Regel ;)

    • Vor 13 Tagen

      es sind einfach die guten Songs nicht in der Dichte vorhanden wie auf Check your Head, oder gar ill communication- da jagt ja ein Highlight das nächste.

    • Vor 13 Tagen

      Dem stimme ich zu, nur ist Paul's Boutique revolutionärer was das Soundbild (vor allem das Sampling) angeht. Das spielt ja in der Meilensteinkategorie auch eine Rolle. In der Hinsicht ist es innovativer und auch mutiger als Ill Communication, was ja quasi Check Your Head 2 ist vom Sound her.

    • Vor 11 Tagen

      ja, das stimmt.

  • Vor 17 Tagen

    Verdienter Meilenstein! Ist vielleicht nicht unbedingt prädestiniert dafür das Lieblingsalbum für Fans dieser Band zu sein - ich selbst bevorzuge auch die beiden Platten danach, aber für den HipHop ist dieses Werk bahnbrechend gewesen und auf seine Art eigentlich bis heute unerreicht.