laut.de-Kritik
Hymnen an die Liebe mit einem Hauch von Jazz und Blues.
Review von Ulf Kubanke"Nostalgie ist die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der man nichts zu lachen hatte", sagt Charles Aznavour. Getreu dem eigenen Motto bleibt die Chanson-Legende stets der Gegenwart zugewandt, verschmäht Schaukelstuhl samt Pantoffeln und schenkt sich selbst und allen Singer/Songwriter-Fans zum 91. Geburtstag das 51. Studioalbum "Encores".
Die Platte ist eine Wucht. Aznavour trägt hörbar noch immer jene feurige Leidenschaft für Musik und Text in sich wie bei seinem Solo-Debüt 1953. Stillstand bedeutet ihm Rückschritt, den Verlust aller Neugier und das Gegenteil von Lebendigkeit. Entsprechend geht er auf "Encores" noch einen Schritt weiter als je zuvor. Noten und Zeilen verfasst er ohnehin seit ca 1948 stets selbst. Da wird es knapp 70 Jahre später selbstverständlich langsam Zeit, endlich auch die komplette Bearbeitung zu erlernen.
So gehen bei den zwölf neuen Liedern nicht nur alle Töne und Worte auf sein Konto. Stattdessen übernimmt Aznavour auch noch sämtliche Arrangements und die gesamte künstlerische Leitung. Das Ergebnis fällt formidabel aus. Seine musikalische Ziehmutter Edith Piaf - mit der er 1946 auf US-Tour war - wäre stolz. Mit "De La Môme A Edith" schenkt er ihr eine verdiente Hommage.
Schon die Eröffnung "Avec Un Brin De Nostalgie" macht deutlich, dass Nostalgie für ihn keinen eigenständigen Wert verkörpert. Die Rückschau erlaubt er sich gelegentlich durchaus. Das Wichtigste dabei sind natürlich die Frauen. Er lässt all seine "heimlichen Affären" und "verrückten Lieben" Revue passieren, um selbstironisch fest zu stellen, dass ihm heute davon nur noch der Whiskey und die Zigaretten geblieben sind.
Musikalisch spielt hier neben Aznavours wundervoller, rein über den Gesang transportierter Melodie vor allem das großartige Piano Erik Berchots eine tragende Rolle. Der Tastenmann erweist sich nicht nur hier als Glücksfall. Jede Emotion der Vocals untermalt er kongenial. In den temperamentvollen Passagen geht er leidenschaftlich mit. Die sanften Momente hebt er hingegen mit Sanftheit und zartem Anschlag hervor.
Auch der Rest des Teams strotzt nur so vor musikalischer Stärke. Ein besonderes Highlight ist das Akkordeon von Roland Romanelli in "Les Petits Pains Au Chocolat". Die Ausgelassenheit und der niedliche Schokobrötchentitel klingen nach Sommer, Sonne und einer Lebensfreude der frühen Jugend, in der Aznavour die Liebe und den Sex entdeckte.
Doch der gebürtige Shahnour Varinag Aznavourian stellt der Idylle recht drastisch die Grausamkeit des Lebens gegenüber. In "Chez Fanny" etwa offenbart er einmal mehr seine armenischen Wurzeln, verlässt den paradiesischen Teil der Jugend und errichtet der geliebten Freundin, die im Widerstand gegen die Nazis fiel, ein rührendes Denkmal ... "de Wehrmacht et de Gestapo!"
Als Höhepunkte dieses Gefühlskarussels präsentieren sich "You've Got To Learn" und "T'Aimer". Der englische Track bringt einen Hauch Jazz und Blues. Als Duettpartner glänzt der ausdrucksstarke Shootingstar Benjamin Clementine, der als ehemals obdachloser Straßenmusiker tatsächlich den langen Weg vom Pariser Bordstein bis zur Skyline zurücklegte.
Ein Tränenzieher Waits'schen Ausmaßes ist das grandiose "T'Aimer". Aznavour zaubert eine der schönsten Hymnen überhaupt an Liebe und Zweisamkeit aus dem Hut. Streicher und Klavier gehen dabei passend Hand in Hand und finden die perfekte Mischung aus tänzelnder Spielerei und kammermusikalischer Zurückgenommenheit.
So gelingt Charles Aznavour mit "Encores" eine große Platte, die sich nicht hinter den Highlights des eigenen Katalogs verstecken muss. Enthusiasmus und Energie erinnern dabei ein wenig an Christopher Lee, der sein letztes Metaloper-Soloalbum auch mit 90 einspielte.
1 Kommentar
Schon krass wie der Mann mit über 90 noch den Großteil seiner singenden Landsmänner in den Schatten stellt. Respekt.