laut.de-Kritik
Sinnlicher Pop zwischen Erhabenheit und Euphorie.
Review von Toni HennigDie 1988 in Brasilien geborene und in Berlin ansässige Künstlerin Dominique Dillon de Byington alias Dillon begeisterte Kritiker und Hörer schon mit dem Debüt "This Silence Kills" (2011), das mit seiner Mixtur aus Elektronik, Gesang und Piano ihr Vergleiche mit Tori Amos und Björk einbrachte. Der Nachfolger "The Unknown" (2014) präsentierte sich dagegen, da sie bei der Entstehung dieses Werkes gegen eine schwere Schreibblockade ankämpfte, um Einiges skizzenhafter. Auf "Kind" hat sie jedoch die Leichtigkeit für sich wiederentdeckt.
Fast alle Texte hatte die Autodidaktin vor dem Beginn der eigentlichen Studioproduktion Ende letzten Jahres fertiggestellt. Darüber hinaus konzipiert sie die zehn Tracks auf dieser Platte so, dass sie sich zu einer schlüssigen Erzählung verdichten, die von Wachstum, von Liebe und von Selbstbehauptung handelt. Im Opener "Kind", ein zärtliches und zerbrechliches Duett mit Dirk von Lowtzow, fragt sie: "How tall will I grow?
"Only time will show", antwortet Dirk von Lowtzow von Tocotronic darauf. Der Closer "2. Kind" könnte demgegenüber mit seinen euphorischen Rave-Signalen ausgelassener und lebensfreudiger kaum noch sein. Dazwischen findet man auf diesem Album viele intelligent arrangierte und opulent ausgeschmückte Electro-Pop-Tracks.
Man hört auf dieser Scheibe oftmals Bläsersätze, die an das Spätwerk von Talk Talk erinnern. Den Songs verleihen sie eine sehr spezielle, charakteristisch-schwermütige Note. Andererseits besitzen einige Stücke, wie das eingängig-balladeske "Shades Fade" und das soulig-warme "Regular Movements", etwas Umarmendes und Tröstendes. Die Stimme der Endzwanzigerin klingt dabei nach wie vor individuell und einzigartig. Sie betont, wie einst Nico, die ersten und die letzten Silben der Wörter besonders hart. Das dynamische "Contact Us" sticht gerade deswegen auf der Platte heraus, weil sie "Contact" wie "Kontakt" ausspricht. Dadurch haftet diesem Track beinahe ein aggressiver Charakter an.
Viele Songs auf diesem Album leben von ihrer Spontanität und Dringlichkeit. So entsteht "Lullaby", als sie zwei Monate lang am Stück unter Schlafstörungen leidet. Weiterhin spielt sie mit den echolotartigen Geräuschen am Anfang auf das Intro von Pink Floyds "Echoes" an. Im Refrain wiederholt sie zu glockenspielartigen Klängen: "Schlaf ein!" Die Nummer weist insgesamt eine ungemein beruhigende und sanfte Wirkung auf. Sie eignet sich tatsächlich wunderbar zum Einschlafen. Die in ihrer portugiesischen Landessprache gesungene, intime und spärliche Piano-Miniatur "Te Procuro", die sie ihrer Mutter widmet, nimmt sie lediglich auf ihrem iPhone auf.
Von Monotonie kann dennoch auf diesem kurzen und kompakten Werk nicht die Rede sein. Die Beats, die Dillon an ihrem Laptop oder PC programmiert hat, fügen sich, wie in "Stem & Leaf", zu elektronisch-abstrakten, faszinierenden Soundgebilden zusammen. Immer dann, wenn ihre Tracks zu sehr in Gefälligkeit und Beliebigkeit abdriften, folgt ein überraschender Break oder eine interessante, leicht polyrhythmische Spielerei. Im Zusammenspiel mit dem rauen, aber sinnlichen Gesang kann man sich der betörenden Anziehungskraft dieser Musik kaum entziehen.
Somit zeigt sich Dillon auf "Kind" so entschlossen und selbstbewusst wie noch nie. Die Platte wahrt die Balance zwischen Zugänglichkeit und Kunstfertigkeit mehr als souverän. Durch die majestätischen Bläserarrangements gewinnt das Album zusätzlich an Tiefe und Erhabenheit. Namen wie Lykke Li oder James Blake, die man in der Vergangenheit in einem Atemzug mit ihr genannt hat, drängen sich dadurch beim Hören gar nicht erst auf. Für ein druckvolles Klangbild sorgen außerdem Langzeitkollaborateur Tamer Fahri Özgönenc von Mit und die beiden Produzenten Nicholas Arthur Weiss aus New York und Samuel Savenberg aus der Schweiz, der unter dem Pseudonym S S S S momentan zu den herausragendsten Künstlern im Industrial- und Noise-Bereich zählt.
5 Kommentare
Wunderbarer Artikel. Sie haben damit perfekt die Emotionen des Albums festgehalten. Danke!
Glückwunsch laut.de, Ihr habt außer Dillon und Quicksand die unwichtigsten Platten des ganzen Monats besprochen. Fjört, Major Parkinson, Lunatic Soul, Coals? Nada.
dillon = musikalische Waldorf-Schule
Zauberhaft, wie auch nicht anders zu erwarten war.
top scheibe, top künstlerin top ausstrahlung