laut.de-Kritik

Apocalypse Now!

Review von

"Das Grauen und der moralische Terror sind deine Freunde. Falls es nicht so ist, sind sie deine gefürchteten Feinde." Dies sagt Colonel Walter E. Kurtz alias Marlon Brando im berühmten Antikriegsfilm "Apocalypse Now". Diese simple Wahrheit gilt heute mindestens so sehr für den Horror in Nahost wie für den damaligen Vietnamkrieg. Dirtmusic nehmen den Faden auf und veröffentlichen mit "Bu Bir Ruya" ("Das Ist Ein Traum") ein ebenso erschütterndes wie berückendes Album zum Thema Kriegsgräuel, Flüchtlingselend, Terrorismus und einer sich abschottenden Ersten Welt.

Hugo Race, seines Zeichens Ex-Bad Seed und mitverantwortlich für große Nick Cave-Alben wie "Tender Prey" oder "Murder Ballads", gründete die Band vor einer guten Dekade mit Walkabouts-Kopf und Glitterhouse-Gründer Chris Eckman. Neu an Bord ist Baba Zulas-Chef Murat Ertel, in dessen Istanbuler Studio die Platte entstand.

Ein Konzept existierte zunächst nicht. Im Gegenteil: Spontaneität und kreative Improvisation sind essentieller Teil des Charakters von Dirtmusic. So ergab sich das Thema von ganz allein durch aktuelle Erfahrungen des Trios.

Der Australier Race fühlte sich abgestoßen von der Praxis seiner Heimat, ankommende Bootsflüchtlinge auf entlegenen Inseln zu internieren. Echman reiste aus Slowenien an, das seine Südgrenze höchst martialisch absichert. Und Ertels liebenswerten Freigeistern Baba Zula schlägt nicht erst seit gestern ein kalter Wind von Polizei und nationalistisch-religiöser Regierung entgegen; Razzien und Songverbote inklusive.

Bedient vom anscheinend kollektiv vollzogenen Zivilisationsrückschritt unserer Spezies erschaffen sie ab Dezember 2016 diese sieben Lieder als Kommentare zum Schrottplatz aller Menschlichkeit. Ihre musikalische Ideenflut scheint unbegrenzt. Angedeuteter Australo-Blues trifft auf eine Prise Rock und eine Woge schwarzlichterner Psychedelik. Hinzu kommen orientalische Folkelemente und sinistre Beats von Funk bis Post-Industrial.

Das wilde Gemisch ordnen sie mit dem Händchen erfahrener Produzenten, so dass keine Sekunde lang das Gefühl von Ziellosigkeit aufkommt. Mit derben Verzerrungen illustrieren sie das allgegenwärtige Versagen und Versiegen der Ethik. Gleichzeitig sorgen die Distortonen für einen mitunter erfrischend derben Rock-Touch, der den Höllengroove vortrefflich ergänzt.

Besonders der Einfall, Ertels Saz mit dem Verzerrer zu deformieren, erweist sich als sympathischer Bringer. Ähnlich wie Miles Davis es in den 70ern mit seiner Trompete machte, legt Ertel hier mitunter los, dass mancher Rock- und Metal-Gitarrero neidisch erbleichen würde. Die Virtuosität arabischer Skalen und türkischen Folks behält er bei und addiert eine gehörige Portion puren Gefühls; etwa in "Bi De Sen Söyle" ("Jetzt Sag Du Mal").

Genau diese große Emotion aller Beteiligten weckt den Kampfgeist. Denn trotz aller Beladenheit des Themas funktionieren die Lieder auf jeder Party ebenso gut wie in der Nachdenklichkeit des stillen Kämmerleins. Ohnehin sind die Lyrics den Klängen absolut ebenbürtig. "Safety In Numbers" etwa ginge lässig als Soundtrack zum ausgrenzenden Zahlenfetisch des CSU-seligen Dobrinderwahnsinns durch.

Höhepunkt in dieser Hinsicht ist sicherlich das hypnotisch trudelnde "The Border Crossing". Geschrieben aus der Perspektive eines Flüchtenden, den nicht schweres Leben oder schwere Not vertrieben, sondern erst schwere Waffen. Doch die Reise aus dem Herz der Finsternis führt nur zum Reich der kalten Herzen und endet vor deren eisernen Toren. "Hey brother, don't you know, we are all other, other, other..."

Trackliste

  1. 1. Bi De Sen Söyle
  2. 2. The Border Crossing
  3. 3. Go the Distance
  4. 4. Love Is a Foreign Country
  5. 5. Safety In Numbers
  6. 6. Outrage
  7. 7. Bu Bir Ruya

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