laut.de-Kritik
Grandioser Elektro-Folk von der Stimme des arabischen Frühlings.
Review von Ulf KubankeDer bemerkenswerte Lebenslauf Emels zeigt: Sie ist nicht einfach Musikerin; sie ist ein Symbol. Songs wie "Kelmti Horra" ("Mein Wort ist frei!") brachten ihr nicht nur den Titel "das Gesicht und die Stimme des Arabischen Frühlings". Auch als Speerspitze des arabischen bzw. moslemischen Feminismus ist sie längst eine Ikone nahöstlicher Freigeister. Mit "Ensen" erscheint nunmehr ihr zweites Album voller Trip-Hop, trendy Elektronika und genuinem Arab-Folk, der nicht nur Dead Can Dance-Fans gefallen wird.
Was bei vielen Künstlern zu Beladenheit und Schreibblockade führen würde, scheint die umtriebige Tunesierin kreativ eher zu beflügeln. Gern nimmt sie ihre Vorreiterrolle an und macht aus der Not, nicht in der für sie gefährlichen Heimat produzieren zu können, eine kosmopolitische Tugend. Entstand ihr Debütalbum noch in Paris, verschlägt es sie diesmal nach New York.
Im Big Apple gewann sie Producer Valgeir Sigurðsson (u.A. Björk, Sigur Ros, Damon Albarn) für sich, der ihren ohnehin individuellen Elektro-Folk entscheidend verfeinerte. Das Ergebnis kann sich mehr als hören lassen. "Ensen" gelingt Track für Track der schwierige Spagat zwischen traditionell nahöstlichen Elementen und modernem westlichem Sound. Was totalitären Systemen zu freigeistig anmutet und fanatischem Klerus als unislamisch gilt, entpuppt sich in Wahrheit als starkes Bindeglied zwischen den Kulturen.
Die Entstehungsgeschichte der Scheibe ist schon allein deshalb erzählenswert, weil die Individualistin im westlichen Exil als Künstlerin mit ähnlichen Vorbehalten zu kämpfen hatte wie zu Hause. Zwar erweist sich der Unbill nicht als so strukturell versklavend und entrechtend wie in weiten Teilen des nahöstlichen Raums. Gleichwohl wurde sie auch in den modernen Metropolen mit Machismo und Paternalismus konfrontiert.
Emel dazu: "Jeder nimmt automatisch an, dass hinter einer weiblichen Künstlerin ein Mann die Strippen zieht – sei es bei den Aufnahmen, sei es bei der künstlerischen Gestaltung. Ich musste unglaubliche Macho-Attitüden überwinden um dieses Album zu realisieren. Daher hoffe ich sehr, dass das Publikum mit 'Ensen' daran erinnert wird, dass Frauen täglich schöpferisch tätig sind."
Emels schöpferische Kraft erstrahlt auf "Ensen" mit Intensität auf Weltniveau. Die große Stärke Emels ist hierbei vor allem die herausragende Vermischung organischer Klänge (zB nordafrikanische Drums und Percussion) mit hochmodernem Steckdosensound. Besondere Anspieltipps: Das hypnotische "Layem" und das energische "Lost".
Beide Gegensätze webt sie mittels ihres ebenso starken wie unkonventionellen Gesangs zum schillernden Klangteppich. Dabei kommen Exotik, Erotik und Romantik ebenso zum Zuge wie das idealistische Anliegen. Genau hierin liegt auch die ultimativ unwiderstehliche Stärke des organischen Emel-Feminismus. Ihr zügelloser Freiheitsdrang entspringt tiefer Kreativität und kompromisslosem Individualismus.
Songs wie "Ensen Dhaif" oder "Kaddesh" sind mithin das effektive Gegenteil zum Pseudo-Feminismus hiesig verbreiteten "AschenbecherInnen"-Aktivismus. Damit wird sie mit "Ensen" nicht nur zum Archetyp nahöstlicher Frauenrechte, sondern taugt ebenso zum Leitbild für den westlichen Feminismus.
2 Kommentare mit einer Antwort
Endlich die Review!
Hab schon ihre erste Platte rauf und runter gehört und gefeiert. Warum wurde die eigentlich hier nie besprochen?
Sei's drum, eine großartige Künstlerin! Habe noch nichts Vergleichbares gehört.
Dann hör dir mal die an, die Band gibt's aber leider nicht mehr https://www.amazon.de/Everything-Must-Chan…
die erste platte wird ausführlich im portrait erwähnt. das wird dir sicher gefallen.