laut.de-Kritik
Unterschiedlichste Stimmungen treffen auf ungebändigte Kreativität.
Review von Toni HennigDas ursprünglich 28-köpfige Fire! Orchestra trat schon auf dem 2016er "Ritual" in einer kleineren, international ausgerichteten Besetzung in Erscheinung. Dort vernahm man vermehrt Soul- und Pop-Einflüsse als auf den beiden experimenteller geratenen Vorgängern "Exit!" und "Enter", ohne dass avantgardistische Jazz-Klänge zu kurz kamen. Für "Arrival" hat die schwedische Big Band noch etwas mehr Übersicht in ihr Line-Up gebracht. Es besteht nur noch aus vierzehn Mitgliedern. Dafür verfügt es zum allerersten Mal über eine Streicher-Sektion.
Die leitet in "(I Am A) Horizon" das Album zunächst kammermusikalisch bedrohlich ein, bevor Johan Berthlings tiefe Bassgitarre einsetzt. Zu der gesellt sich kurze Zeit später das federnde Drum-Spiel von Andreas Werliin, das Raum für den umwerfenden Auftritt der beiden Sängerinnen Mariam Wallentin und Sofia Jernberg schafft, die man synchron hört. Erst gegen Ende steuert Mats Gustafsson, seit mehr als zwanzig Jahren einer der wichtigsten Musiker im experimentellen Jazz, zunehmend schmerzvollere Töne am Bariton-Saxofon bei. Der hält sich jedoch noch mit seinen impulsiven Ausbrüchen zurück.
Des Weiteren bilden diese fünf Musiker und Musikerinnen seit jeher den festen Kern der Big Band. Als große Bereicherung sei allerdings die Portugiesin Susana Santos Silva genannt, die mit flirrenden Klängen an der Trompete eine nur schwer greifbare, subtile Spannung erzeugt, die sich jederzeit gefühlsmäßig entladen könnte. Aber auch die restlichen Beteiligten zeichnen sich zweifellos durch virtuoses Können aus.
"Weekends (The Soil Is Calling)" überrascht anschließend zunächst mit afrikanischen Schlagzeug-Rhythmen und Gesängen, dringt aber nach dem Einsatz der Schweineorgel von Tomas Hallonsten nach und nach in immer psychedelischere Instrumental-Sphären vor. Gerade durch die rituellen Drums fühlt man sich in die Frühphase Pink Floyds Ende der Sechziger zurückversetzt. Dazu sorgt Gustafsson mit einem expressiven Free Jazz-Solo in der Mitte für entfesseltes Chaos. Im Anschluss scheint das Stück vor Ideenreichtum förmlich überzusprudeln, wenn Musik und Stimmen eine berauschende Fusion voller Energie und Wildheit eingehen. Der Einfluss der studierten Komponistin Sofia Jernberg macht sich hier deutlich bemerkbar.
Die stammt nämlich ursprünglich aus Äthiopien, wuchs jedoch in Vietnam und Schweden auf. Schon als Teenager interessierte sie sich für außerwestliche Klänge. Im Laufe ihrer Karriere avancierte sie als "Sängerin, die permanent unterwegs ist, um unbekanntes Terrain zu erkunden" zu den prägendsten weiblichen Figuren des Creative Jazz', erntete aber auch als klassische Vokalistin in Arnold Schönbergs "Pierrot Lunaire" eine Menge Lob und Anerkennung.
Ganz anders Mariam Wallentin, die ihre Wurzeln im Soul. Sie lernte ihren Ehemann Andreas Werliin während ihres Studiums an der Musical-Akademie in Göteborg kennen. Darüber hinaus betreibt sie unter dem Pseudonym Mariam The Believer ein folkiges Pop-Projekt. Gerade die etwas eingängigeren und zugänglicheren Momente auf diesem Werk zeugen von ihrer Handschrift als Komponistin.
So unterschiedlich diese beiden Stimmen auch sein mögen, um so besser ergänzen sie sich gegenseitig. Dem freigeistig dramatischen Ansatz Jernbergs setzt Wallentin sowohl warme Erdigkeit als auch emotionale Verletzlichkeit entgegen. Bester Beweis: Die ätherisch nachdenkliche Ballade "Blue Crystal Fire", im Original vom amerikanischen Folk-Sänger Robbie Basho.
"Silver Trees" beginnt mit einem klagenden, aber zurückhaltenden Solo Gustafssons in Anlehnung an sein Vorbild Peter Brötzmann. Im weiteren Verlauf der ersten Hälfte lebt die Nummer schließlich vom Zusammenspiel dunkler Kontrabass- und Streicher-Klänge. Die dienen den mystischen Worten als atmosphärisches Fundament. Danach platzt das Stück förmlich aus allen Nähten, wenn kunstvolle Trompeten-Töne, cineastische Streicher und wilde Sprechgesangs-Einlagen aufeinander treffen und letzten Endes in einem wüsten Free Jazz-Chaos münden, das mit expressiven Saxofon- und Stimm-Eskapaden nicht geizt. Im Grunde genommen vollzieht es von kontrollierter Beherrschtheit zu wütender Aufbruchsstimmung eine wundersame Wendung um 180 Grad.
Demgegenüber geht es mit "Dressed In Smoke. Blown Away" in abgelegene, schäbige Jazz-Keller. Langgezogene Saxofon-Klänge, doomige Drum- und Bassgitarren-Sounds sowie eine dreckige Schweineorgel im Deep Purple-Stil breiten den Teppich aus für den theatralisch lasziven Auftritt der beiden Vokalistinnen, während sich zu schneidenden Violinen der Abgrund auftut. Die könnten nämlich aus einem Gruselfilm-Soundtrack Krzysztof Pendereckis Anfang bis Mitte der Siebziger stammen. Da mutet "(Beneath) The Edge Of Life" mit verwunschenen Streichern und Klarinetten sowie versponnener Stimmführung Jernbergs und genial kontrastriert von Wallentins musicalhaftem Ausdruck, nahezu märchenhaft an.
Dass man sich von falschen Illusionen verabschieden sollte, davon handelt ein Stück weit "At Last I Am Free". Das kreist im Großen und Ganzen um eine zerbrochene Beziehung. Den Song schrieben einst Bernard Edwards und Nile Rodgers für das Chic-Album "C'est Chic". Spätestens jetzt dürfte die Jazz-Polizei nicht mehr weit sein.
Im Gegensatz zu den US-Amerikanern steigt das Fire! Orchestra direkt im zweiten Vers ein. Wenn Wallentin dazu ihre Stimme brüchig über Ambient-Keyboards legt, schält sich die Einsamkeit und Verlorenheit der Protagonistin noch konkreter heraus als in der ursprünglichen Version. Im Refrain, unterlegt mit elegischen Streichern, gleitet die Nummer einer noch ungewissen Zukunft entgegen, zumal die zitternden Töne Gustafssons nichts Tröstendes und Zuversichtliches vermitteln. Demzufolge ringt die Big Band der im Original eher optimistisch gehaltenen Ballade neue, ungewohnte Facetten ab. Die Frage, was ein Chic-Cover auf einer avantgardistischen Jazz-Platte verloren hat, dürfte sich demnach erübrigt haben.
Auf der Scheibe vereinigen sich unterschiedliche Stimmungen mit ungebändigter Kreativität. Jegliche festgefahrenen Prinzipien des Jazz' lassen die Schweden somit hinter sich, ohne aber ihre experimentellen Ursprünge zu verleugnen. "Arrival" markiert ihr bislang vielfältigstes und herausragendstes Werk. Es besitzt im Grunde genommen alles, was ein Genre-Klassiker braucht.
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