laut.de-Kritik
Monsieur 100.000 Volt elektrisiert noch immer.
Review von Artur SchulzAus der öffentlichen Wahrnehmung ist der französische Chansonnier Gilbert Bécaud hierzulande zu Unrecht verschwunden - was gleichzeitig einer Neuentdeckung seiner Arbeiten unbelastet den Weg bereitet. Dazu eignet sich die Doppel-CD "Unsterblich - Seine Größten Chansons" vorzüglich. Sie enthält neben den Originalen auch die deutschen Fassungen vieler Songs, die in den sechziger und siebziger Jahren zu Hits avancierten.
Am 18. Dezember 2011 jährt sich der zehnte Todestag des Sängers, Entertainers und Komponisten. Aus diesem Anlass erscheint in verschiedenen Ausführungen eine Retrospektive des Werks. Mit seinem durchschlagenden Erfolg in Deutschland ebnete Bécaud der Beliebtheit französischer Künstler wie Sacha Distel, Francoise Hardy, Charles Aznavour oder Serge Gainsbourg den Weg. Im Wust der vorweihnachtlichen Best Ofs sticht diese Zusammenstellung uneingeschränkt positiv hervor.
"Was Wird Aus Mir" ("Et Maintenant") zählt zu den herausragendsten Arbeiten des Franzosen. Dramaturgisch glänzend inszeniert, taucht er seine Komposition in ein mitreißendes Arrangement, bei dem bewusst Maurice Ravels Klassik-Großtat "Bolero" Pate steht. Angesichts dieser Version ist es schwer zu glauben, dass es sich hier um einen späteren Welthit für Frank Sinatra handelt. Denn noch immer klingt hauptsächlich Frankie-Boys Swing-Adaption "What Now My Love" in den Ohren der Musikfans.
Doch nicht nur Sinatra bediente sich der Fertigkeiten des Franzosen. Neil Diamond übernahm "C'est En Septembre" 1979 als "September Morn". Bécaud selbst interpretiert den Titel in Deutsch als "Zwei Weiße Wolken". 1965, in Zeiten des Kalten Krieges, wagt er mit "Nathalie" eine in Moskau spielende Liebeserklärung - die sich zum Riesenhit entwickelt und sogar Udo Jürgens inspiriert, dessen etwas jüngerer Song "Ich Sah Nur Sie" textliche und musikalische Ahnlichkeiten aufweist.
"Überall Blühen Rosen" mag zunächst als lupenreiner Schlager durchgehen. Doch dank Gilberts Intonation erhält der Track jene besondere Tiefe, die ihn weit abhebt von belanglosem Tralala. Diese Stimme! Gleichzeitig rauh und rauchig, warm und tröstlich - und dann natürlich dieser faszinierende, französische Akzent.
Auffallend sind die vielen melancholischen Momente, die Musik und Texte durchziehen, gepaart mit noch immer gültigen Aussagen und Erkenntnissen. Wie im Song "Das Große Nichts", der eindringlich Verlust an Lebensfreude umschreibt: "Das große Nichts / es bringt dich ganz allmählich um / wär es nur Liebe oder Hass / statt diese Leere." Ohne Frage eine dunkle Vorstellung für Bécaud, der in seiner Ausstrahlung für intensiv ausgelebte Vitalität und Sinnenfreude steht.
Doch wirkliche Lebensschatten sind nicht wegzusingen, im Gegenteil. Besonders eindrucksvoll gelingt der Umgang damit in "Wie Ein Schwan". Die furios als rund dreiminütige Chanson- und Pop-Oper konzipierte, brilliant arrangierte Aufnahme über den Selbstmord einer Tänzerin bewegt als besonderes Highlight der deutschen Titel. "Doch wird der hellste Stern / am schnellsten ausgelacht / wenn er fällt", stellt der Sänger mit Bitterkeit fest. Beim Wandern auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst trägt er hier eindeutig den Sieg davon.
Gilbert Bécaud verfügt über das rare, unlernbare Extra fürs Künstler-Dasein: Charme, Überzeugungskraft und Charisma. Die vorliegende Kollektion präsentiert den Franzosen als wandlungsfähigen, stilsicheren Troubadour. Der mal zum beschwingten Tanz bittet, wie auch den richtigen Ton für leisere Momente bereithält. Älteren Fans ist der Mann im eleganten, dunkelblauen Anzug und der gepunkteten Krawatte sowieso unvergeßlich. Für neugierige Nachwachsende gilt: der anerkennend als 'Monsieur 100.000 Volt' titulierte Chansonnier elektrisiert noch immer.
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