laut.de-Kritik

Lost Tapes aus Tulsa, Oklahoma.

Review von

Bei Marvin Gaye kann man es aus Gründen falsch und missglückt finden, ein Album aus den posthumen Hinterlassenschaften eines Musikers zu gestalten. Im Falle JJ Cales klingt außer der Idee auch die Umsetzung goldrichtig, gelingt doch ein seltener Spagat: "Stay Around" fängt vielfältige Facetten dieses Musikers ein und liefert zugleich ein paar typische Nummern, wie man sie erwartet. Und obendrein liegt nun auch sein wohl bestes Album vor. Jedenfalls das mit der meisten Strahlkraft.

Weder tauchen hier blasse Reste auf, die für andere Scheiben nicht taugten, noch deutet die Plattenfirma den Eigenbrötler um. Spitzensongs stechen heraus: "Tell You About Her" sollte sich jeder Rock-/Americana-Fan mal anhören, "Tell Daddy" wird Klavier-Jazz-Freunde beeindrucken und "Maria" beweist sich als edles Stück für die Songwriter- und Country-Fraktion.

Als Referenz-LP für JJ Cale-Freunde, die ihn nicht nur als Lied-Lieferant für Clapton begriffen, galt bis dato "5", sein fünftes Album. Die Clapton-Fans griffen auch oft zu "Troubadour", Cales vierter Scheibe mit der Originalfassung von "Cocaine", die im Gefolge von Slowhands wachsender Beliebtheit in Deutschland in die Top 30 aufstieg. Cale trägt auf allen damaligen Platten seine Titel so vernuschelt und unperfekt wie möglich vor, wobei die Aufnahmen auf "5", zusammen mit Christine Lakeland, zugleich Zuversicht und Optimismus vermitteln. Womöglich war der Sänger verliebt. Lakeland heiratete ihn später und hat als seine Witwe nun auch die Archiv-Ausgrabungen autorisiert.

Auf allzu viel Perfektion, selbst auf klare Einstiegsriffs, entschiedene Enden oder starke Instrumentierung, auf all so etwas verzichtete der Sänger meist. Auf- und Abblenden, willkürliches Beenden von Tracks und eine verwaschene Tonqualität in Demo-Tape-Style waren die Markenzeichen der meisten seiner Alben. Das Fragmentarische bleibt auch 2019 präsent, etwa in "Oh My My" und "Don't Call Me Joe", Tracks, die wie abgerissen wirken.

Der Eröffnungssong "Lights Down Low" tönt so, dass Cale in einer Castingshow heute sicher den Tipp bekäme, seinen Mund beim Singen mehr zu öffnen - ach, und an der Atemtechnik müsste er dringend arbeiten. Cale wollte aber niemandem gefallen. Man weiß auch bis heute nicht, was er genau wollte, aber sicher nicht die Regeln des Musikbusiness mitspielen. Diese introvertierte Art seiner 70er- und 80er-Jahre-Alben findet sich in "Wish You Were Here", wobei man an einen Typen im Wohnzimmer mit Tonbandgerät denkt, aber nicht an professionelle Bands.

Neben typischen Cale-Songs ("My Baby Blues", "If We Try"), reduziert und bluesig, tauchen sehr ausgereifte Songstrukturen und Arrangements ("Tell Daddy", "Go Downtown") auf, auch brüchige Steh-Blues-Romantik wie in "Girl Of Mine", die einem Clapton schon zu süßlich wäre. Besonders das in warme Soundfarben getauchte "Go Downtown" überrascht, weil es nicht rau und karg, sondern stimmungsvoll und einladend wirkt.

Gut, er ist auch hier kein Sänger, der große Resonanzen lange hält. Mitunter scheint er zahnlos, doch er war einer, der hohe Töne und Akkordfolgen mit Blue Note-Zwischentönen sehr sicher traf, ohne in Leid ertränkt zu wirken. Viel mehr schwebt Cales Gesang voller Leichtigkeit. Die ruhige, tiefenentspannte Lebensweise des (zurückgezogenen) Einsiedlers überträgt sich auf Stimme und Intonation. In "Long About Sundown" trägt er seinen wenigen Text mit Timbre und Biss vor. Dabei geht es in solchen Strophen nicht um viel: Nur darum eine Stimmung mit ein paar Beobachtungen einzufangen, eine Tageszeit, ein paar Eindrücke. Zum Beispiel erzählt er, dass Kaffee ihn wachrüttelt und er mit einem Mädchen die Zeit vergisst. Stories, Metaphern oder gar Rätsel? - Fehlanzeige. Frauen heißen in dieser Musik niedlich "girl", "baby", "her", niemals Frau. Einmal hat die Dame einen Namen, "Maria", und die Liebessongs nehmen auf "Stay Around" den meisten Platz ein.

Die instrumentalen Momente lohnen sich besonders, so das 65 Sekunden Klavier-Intro von "Tell Daddy" und das Gitarrensaiten-Picking in "Oh My My". Letzterer Song führt auch mehr als deutlich vor, wo die Dire Straits im fernen London ihre Inspirationen her hatten, als sie Ende der 70er ihr Debüt aufnahmen. Mark Knopfler bekannte sich später zu JJ Cale als Vorbild. Für Fans der frühen Dire Straits ist "Stay Around" schon deswegen interessant, weil sich viele Parallelen von dort exakt bis in die Mikrostruktur der ersten Knopfler'schen Gitarrenriffs verfolgen lassen.

Als Cale im Juli 2013 seine Augen für immer schloss, würdigten ihn Presse und Rockszene als Songschreiber - der anderen zu ihren besten Aufnahmen verhalf ("Call Me The Breeze"/Lynyrd Skynyrd, "Bringing It Back"/Kansas etcetera). Nun kann man sich an Cale zum Glück auch aus einem anderen Blickwinkel erinnern und ihn als den Typen mit einem der schönsten Akustikalben der 2010er-Dekade auf dem Schirm behalten.

Trackliste

  1. 1. Lights Down Low
  2. 2. Chasing You
  3. 3. Winter Snow
  4. 4. Stay Around
  5. 5. Tell You ‘Bout Her
  6. 6. Oh My My
  7. 7. My Baby Blues
  8. 8. Girl Of Mine
  9. 9. Go Downtown
  10. 10. If We Try
  11. 11. Tell Daddy
  12. 12. Wish You Were Here
  13. 13. Long About Sundown
  14. 14. Maria
  15. 15. Don’t Call Me Joe

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