laut.de-Kritik
Well Done, Folks!
Review von Yan VogelVon Zeit zu Zeit bringt Ian Anderson ein Album heraus, mal als Solo-Künstler, mal unter dem Dach von Jethro Tull. Die Beweggründe für einen Output mit seiner Folk-Prog Kapelle legt der Flamingo-Flötist im laut.de-Interview dar: an erster Stelle, um der aktuellen Tull-Kapelle Gehör zu verschaffen.
Bemerkenswert auch, dass es Corona-bedingt zwei Aufnahme-Zyklen gegeben hat, die unterschiedliche Resultate zeitigen: Rock und Prog dominieren auf der einen Seite, die die Band stark in den Vordergrund stellt. In Zeiten des Lockdowns werkelte Anderson notgedrungen alleine, was wiederum eine Affinität zu Folk und Akustik zur Folge hatte. Man könnte auch meinen: mal geht Anderson entschieden zur Sache, mal widmet er sich schonend den Dingen. "Barren Beth, Wild Desert John" bringt die beiden Welten gar in Einklang.
Der Opener bedient den Kontrast zwischen dem Hardrock-Bombast der Siebziger à la Deep Purple, einigen prägnanten New Wave-Synthies und Andersons betörendem Flötenspiel. Die Kombination kann fehlschlagen, in diesem Fall entsteht ein höchst unterhaltsamer Song. "Mrs. Tibbets" klingt wie das "Jump" des Progressive Rock.
"Jacob's Tales", "Sad City Sisters" oder der Ohrwurm "In Brief Visitation" stehen hingegen für das zarte Antlitz der Platte. Mundharmonika, hohe Voicings auf der Akustik-Gitarre und dezente Percussions ergeben das Bild eines Songs, der direkt aus dem Wald zu stammen scheint.
Das romantisch angehauchte Klavier-Intro zu "Mine Is The Mountain" ebnet den Weg für eine tänzelnde Ballade zwischen Dramatik und Dynamik. Der Titeltrack beginnt mit einem Trommelwirbel und entwickelt sich zu einem beschwingten Kleinod. Der 74-Jährige singt mit reduziertem Ambitus im Gestus eines Storytellers.
"Shoshana Sleeping" ist eine weitere Bandnummer, die die Fähigkeiten der Bandmitglieder fokussiert: Variantenreiches Tastenspiel, das Pendeln zwischen cleanen und angerauten Gitarrensounds und das dynamische Drumming. Das Piano-basierte "The Betrayal Of Joshua Kynde" besticht mit coolen Call and Response-Passagen zwischen Flöte, Klavier und elektrischer Gitarre.
Die Texte ziehen ihre Inspiration aus der Bibel. Anderson spielt mit der Ambivalenz aus Dogmen und freiem Denken, schlägt sich weder auf die eine, noch auf die andere Seite. Als Hintergrundfolie, die unterschiedliche Machart der Songs und den Storytelling-Ansatz unterstreichend, eignet sich das Sujet sehr gut. Anders als etwa beim surrealistischen "A Passion Play" bleibt die Band musikalisch auf dem Boden der Tatsachen.
Der Einfluss von Alben wie "Aqualung", "Thick As A Brick" oder "Songs For The Wood" ist unbestritten. Iron Maiden und insbesondere deren Bandchef Steve Harris, oder Psychotic Waltz können mehr als ein Lied davon singen. Nun erweist sich "The Zealot Gene" als eine schöne Reminiszenz an das Tull-Erbe. Gestaltet mit Akribie und einem langen Atem wirkt der Output alles andere als aus der künstlichen Hüfte geschossen. Well Done, Folks!
3 Kommentare
Finde mich in der Rezension und den 4 Sternen sehr gut wieder. Bin froh, dass Anderson zum einen ein gutes Werk abgeliefert hat und zum anderen überhaupt noch neue Musik erscheint. Und da ist es mir zunächst egal, ob es nun unter Ian Anderson oder Jethro Tull läuft.
Herrlich ! Anderson und seine Mannschaft schaffen es immer wieder das die Zeit einen Moment still zu stehen scheint. Meine Gedanken bei seiner Musik gleiten immer in Traumwelten aus Mittelalter und Fantasy ab. Sehr angenehm und fast meditativ. Das neue Album -I LOVE IT
Habe das Album über Qobuz gehört und habe es gerade auf Vinyl geliefert bekommen. Das ist bei mir sozusagen der "Ritterschlag" für Alben, die ich wirklich gut finde. Im Streaming "testen" und bei wirklich guten Alben auf Platte kaufen... (Na ja, bin halt auch ein Tull-Fan...)