laut.de-Kritik

Hip Hop-Klassiker, der in ein paar Jahren in einem Atemzug mit Boom Bap-G-Funk genannt werden wird.

Review von

"Ich bringe den realen Hip Hop zurück." Oder: "Dünne Hipster mit dünnen Hosen sind fake." Viele, vor allem New Yorker Ü40-OGs und deren Fans, übertrafen sich in den letzten Jahren mit negativen Äußerungen gegen die Klasse von 2008, '09, '10, '11, '12. Jungs, möchte man sagen, ihr seid so konservativ wie Punk-Rock. Eurer Boom Bap-Blabla ist ja ganz nett - genau wie der kleine Bruder von Scheiße.

Was das mit dem "Good Kid" und der "m.A.A.d city" zu tun hat? Nix, sagt Stevie, denn Kid Kendrick aus L.A. dribbelt dem oben erwähnten Pendant eines CDU-Wählers mit Flows ohne Unterlass einen Knoten in die Ohren und droppt als Majordebüt ein ... wartet, es kommt gleich, Barney: ... reales Konzept-Album. Noch einmal alle Hände in die Air und buchstabiert: K.O.N.Z.E.P.T-Album. Und um es mit Jay-Z zu sagen: Nigga what?!

Ja, Jigga, digga, das Teil hier pulverisiert deinen halbgaren musikalischen Lebensentwurf auf dem "Black Album". Dabei ist Kendricks Story, "Good Kid in M.a.a.D. City", schnell erzählt. Lamar Junior fährt mit seinen halbstarken Homies durch die Gegend, freestylt, kifft und trinkt. Irgendwann beschließt die Truppe, einen Nachbarn um sein Hab und Gut zu erleichtern. Nach der aufregenden, da knappen Flucht fährt Kendrick zu seinem Mädchen Sherane, um mal wieder ein Rohr zu verlegen, trifft dort jedoch auf zwei Männer, die ihn ordentlich verkloppen.

Wie ein geprügelter, in seiner Ehre gekränkter Hund sucht er Linderung bei den Bros und will sich rächen. Als seine Crew auf das Duo trifft, kommt es zu einer Schießerei, bei der ein Freund von ihm stirbt. Alle fordern jetzt erst recht Vergeltung, doch vor einer Kirche beschwichtigt eine Frau die Gang. Zudem wäscht Mutti Lamar ihrem Sohn telefonisch den Kopf und fordert ihn auf, Rapper zu werden. Der Rest ist Geschichte.

Metal-Vögel oder Rock-Puristen fangen jetzt wahrscheinlich an, von komplexeren Konzept-Werken wie "Operation Mindcrime" oder "The Wall" zu brabbeln. Richtig so, doch zum ersten Mal in der Rap-Geschichte passen sich Beats und Flows der Geschichte an wie Messi und Xavi. Auf zum Storyteller's Slam nach Compton!

Der ganze Ärger startet – wie sollte es anders sein – mit Frauen. Kendrick will nach einem kurzen Gebet seine "Sherane a.k.a. Master Splinter's Daughter" besuchen und erinnert sich ans erste Treffen. "I met her at this house party on El Segundo and Central / She had the credentials of strippers in Atlanta." Über einen sommerlich entspannten, von einer Snare im Stile eines verreckenden iPhone-Akkus gekennzeichneten Beat gibt er immer mit leise-rauer Stimme mehr von seinem Mädchen preis. "Know a lot bout each other, her mother was a crack addict / She live with her granny and her younger two brothers / Her favorite cousin Demetrius has a reputable / History of gang banging did make me sceptical / But not enough to stop me from getting a nut / I wanna come over, what's up?" Der Song endet mit jener schicksalshaften Begegnung. Ihr ahnt es schon.

Flashback: Noch smoother, noch ein Laid Back-Level mehr beginnt auf dem von Soundwave produzierten "Bitch, Don't Kill My Vibe" die eigentliche Story. Weed, Westcoast und Wärme wirken selbst durch In-Ear-Schnäppchen. Kendricks hellere Stimme fließt nun mit merklich mehr Energie durch die Boxen. Im Hook wechselt er wieder einmal in die leicht quarkende Tonlage. "Sometimes I need to be alone / Bitch don't kill my vibe / Bitch don't kill my vibe / I can feel your energy from two planets away / I got my drink I got my music I will share it but today / Bitch don't kill my vibe." Klarer Fall von zeitlos-männlicher "Ich brauch' meine Ruhe"-Hymne - schön auf die Spitze getrieben von dem verspielten Violinen-Solo zum Schluss.

Dann klingeln die Kollegen, zusammen gehts zum Cruisen, Cruisen, Cruisen. Und was macht man mit den Homies im Auto? Na, klar: Braggen und boosten im "Backseat Freestyle": "All my life I want money and power / Respect my mind or die from lead shower / I pray my dick get big as the Eiffel Tower / So I can fuck the world for 72 hours." Kiffer Kendrick krakeelt und krächzt dabei über ein minimalistisches Beatgerüst ohne Schnickschnack, gerade so, als ob ein Kollege nebenbei ein paar Rhythmen klopft und beatboxt.

Der Song spaltet in den einschlägigen Rap-Foren die Gemüter wie Conan, doch gerade dieser kurze Track symbolisiert die totale Unterordnung der Songs unter das Gesamtkonzept. Und was passiert bei zu viel Cruisen und Drogen? Man kommt auf dumme Gedanken wie im Nazihirn und feige bleibt nur eine Frucht ("The Art of Peer Pressure"). Auch Kendrick erliegt der Kunst des Gruppenzwangs, weiß um den Fehler und rechtfertigt sich den ganzen Track hindurch. "But I'm with the homies right now."

Wir erinnern uns: Ein Haus soll ausgeraubt, das Weed will eben bezahlt werden. Bis zu 1:30 bleibt alles sonnig, doch dann wird es ernst. Der Sound ändert sich schlagartig. Böse knarzende Synthies, eine Mobb Deep-hallende Snare creepen durch die Boxen wie die Jungs durch die Hinterhöfe. K.Dots Stimme wirkt gedämpft, fast verschlagen, und erreicht nebenbei Raekwons Storytelling-Intensität. Nach dem erfolgreichen Bruch und der Verfolgung entkommen die Delinquenten knapp. "But they made a right, they made a left then made a right / Then another right / One lucky night with the homies."

Verschnaufpause. Auch für den Part am anderen des Apples-Geräts. DJ Dahis drosselt seinen Cowbell-Kopfnicker für ein paar feine Zeilen über den Struggle und Hustle in L.A. 2012 von Kendrick und Black Hippy-Kollegen Jay Rock aufs Minimaltempo. Kendricks Hook-Game erstrahlt hier im hellsten aller Lichter: "It go Halle Berry or hallelujah / Pick your poison tell me what you do / Everybody gon' respect the shooter / But the one in front of the gun lives forever / And I been hustlin' all day, this a way, that a way / Through canals and alleyways, just to say / Money trees is the perfect place for shade and that's just how I feel."

Nach dem Ärger ist vor dem Ärger. So schließt sich beim 80er schwitzend-souligen Drake-Duett auf "Poetic Justice" der Kreis zum ersten Track – musikalisch, mit der gleichen Melodie, und inhaltlich. Kendrick erzählt beim Fahren von Muttis Van seine Erlebnisse mit den heißen Ischen wie eben Sherane und endet mit der Begegnung mit den üblen Typen. Und diese prügeln auf das "Good Kid" ein, da kann auch Produzent und Hookmaster Pharrell Williams nicht mehr helfen. "They will never respect the good kid maad city." Auf allen Ebenen verletzt, schleppt sich Kendrick zu seinen Kollegen zurück, nicht ohne den Hörer stilecht in der Mitte des Albums den Höhepunkt um die Ohren zu hauen.

Die Beatjunkies Soundwave, THC und Terrace Martin vereinen auf "M.A.A.d City" mal eben die komplette Bandbreite des G-Funks. Am Anfang pumpt es im modernen Gewand mit tickenden Snares und hypnotischen Synthies, ab 2:40 stürmt dann ein 90er Banger, angetrieben von einem mächtigen Ice Cube-"A Bird In The Hand"-Sample, zusammen mit Legende MC Eiht ungestüm in die Schusslinie. Am Ende des Rache-Infernos trifft Lamar seine Crew, die versucht, ihn mit Sprit aufzumuntern. Ein netter Anlass, um auf "Swimming Pools (Drank)" den Alkoholmissbrauch zu thematisieren. "Now I done grew up / Round some people living their life in bottles / Granddaddy had the golden flask / Back stroke every day in Chicago / Some people like the way it feels / Some people wanna kill their sorrows."

Am Ende des Tracks trifft man dann auf das Duo, es kommt zur besagten Schießerei, der Bruder eines Freunds stirbt. Was dann im wieder einmal sehr laid back-funkigen, von der Pac Division produzierten "Sing About Me / I'm Dying Of Thirst" und seinen zwölf Minuten (!!) folgt, hat die Rap-Welt noch nicht gesehen. Kendrick rappt die ersten zwei Verse aus der Perspektive jenes Freundes und nimmt zum Schluss die ganze Schuld auf sich, inklusive Verweis auf seiner "Section.80"-Hommage an seine Schwester in "Keyshia's Song". Der Hook – die Bitte des Bruders – besiegelt die Gefühlsduselei.

Zurück in der Gegenwart beendet das einmal mehr von Terrace Martin entspannt produzierte "Real". "Keep it real" ist eben nicht gleich "keep it revenge". So endet der Hass, und Kendricks Aufstieg beginnt. Er steht mit Dr. Dre im Studio ("The Recipe"), rappt über Just Blaze-Beats ("Compton") und holt sich Mary J. Blige für einen Party-Refrain ("Now Or Never").

Klare Aussagen des "Good Kid" aus einer "M.A.A.d. City": Negativität führt in den Thug-Heaven zu 2Pac, Vergebung zu Dr. Dre ins Studio und an die hell lodernde Hip Hop-Fackel. Zumindest dort an der Spitze ist nach dieser Leistung zu Recht kein Platz mehr für uninspirierte Underground-Veteranen und ihre Wahrheiten. Auch wenn Kendrick Lamar auf "Section.80" ein paar geilere Beats pickte und politische Themen ansprach, ist sein Majordebüt doch der echte Hip Hop-Klassiker, der in ein paar Jahren – wenn sich der Rauch verzogen hat - in einem Atemzug mit Boom Bap-G-Funk und Dirty South genannt werden wird. Wie postete ein befreundeter Juice-Redakteur auf facebook: Danke, Kendrick Lamar. Danke.

Trackliste

  1. 1. Sherane a.k.a. Master Splinter's Daughter
  2. 2. Bitch, Don't Kill My Vibe
  3. 3. Backseat Freestyle
  4. 4. The Art Of Peer Pressure
  5. 5. Money Trees feat. Jay Rock
  6. 6. Poetic Justice feat. Drake
  7. 7. Good Kid
  8. 8. m.A.A.d City feat. MC Eiht
  9. 9. Swimming Pools (Drank)
  10. 10. Sing About Me / I'm Dying Of Thirst
  11. 11. Real feat. Anna Wise
  12. 12. Compton feat. Dr. Dre
  13. 13. The Recipe feat. Dr. Dre
  14. 14. Black Boy Fly
  15. 15. Now Or Never feat. Mary J. Blige
  16. 16. Collect Calls
  17. 17. Swimming Pools (Drank)

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108 Kommentare mit 14 Antworten

  • Vor 12 Jahren

    Kendrick Lamar ist ein junger Artist mit einem überdurchschnittlichen Anspruch und einem reifen Geist. Ich werde mir das Album kaufen und ich hoffe es werden wieder ein paar Klassiker drauf sein.

  • Vor 12 Jahren

    Wenn es an Section80 rankommt, dann wird es sicher ein Klassiker. Bin sehr gespannt

  • Vor 12 Jahren

    Klassiker wird dem Album schon gerecht. Was ich an der ganzen Black Hippy-Posse so gut finde: musikalisch klingen alle grossteils unkalifornisch. Kendrick ist der beste rapper unter ihnen und wohl auch unter den generell besten 3 aktuell reimenden. Alleine wie er in 'Backseat Freestyle' vom Leder zieht, das ist nun auch nicht dieses emotionsfreie Runterrattern wie bei Tech N9ne. 'Collect Calls', der Ueberhit 'Swimming Pools (Drank)'.. Doppelboing von mir.