laut.de-Kritik

Schlager-Folk für Swifties.

Review von

"Gedanken fluten mich, bis ich fast in ihnen versinke", schildert Lea gleich zu Anfang ihres Albums ein wild rotierendes Kopfkarussell. Schon der Titel "Von der Schönheit und Zerbrechlichkeit der Dinge" schiebt alle Assoziationen in Richtung Folk, Art, Introspektion, Philosophie und Poetry. Als weise Singer-Songwriterin fiel die 31-Jährige bisher nicht auf. In ihren Twentys erzählte sie handelsübliche Coming-of-Age-Geschichten mit geringem Überraschungswert. Sie ließ sich von Max Raabes Orchester bis zum Casting-Format "The Voice Of Germany" herum reichen und scheute nicht mal eine Zusammenarbeit mit Capital Bra. Jenseits der klaren Stimme bestand ihr Hauptmerkmal aus einer House-Chanson-Deutschrap-Beliebigkeit. Koops mit Mark Forster festigten ihr Standing im kalkulierten Pop-Geschäft.

Das neue Album präsentiert wieder sattsam ausgelutschte Schlagwörter wie Authentizität und Weltschmerz im Folk-Gewand, was ihr phasenweise ausgesprochen gut steht. Seit Lea 2007 als Teil der Bedroom-Pop-Generation auf YouTube startete, ist ihr das Konzept aus Keyboards, Stimme und verwirrt-introvertierter Grundhaltung längst vertraut. Der Song "Von Der Schönheit Und Zerbrechlichkeit Der Dinge" erweckt mit einer schäbig herunter gekratzten Akustikgitarre nebst Streichern den Eindruck einer frühen Leonard Cohen-Darbietung aus "Lover Lover Lover"-Zeiten. "Manchmal kämpf ich mit den Nebel-Tagen / ich trag meine Traurigkeit / vor mir her wie'n Blumenstrauß", tritt Lea in die Fußstapfen des Meisters der offensiv zelebrierten Melancholie.

Überraschung: Die Beatgees produzierten das schöne Kammermusik-Arrangement. Schönheitsfehler: Weder passt der Blumenstrauß ins Versmaß, noch ist er eine passende Metapher. Ami Warning zum Beispiel textet ihren ratlosen Blick auf Alltag, Burn-Out-Risiko, Chat-Kommunikation und fragile Partnerschaften deutlich geschliffener und mit mehr Dynamik in der Sprache.

Das ist der Unterschied zwischen einer kundigen Multiinstrumentalistin, die selbst über alles die Regie behält, und der Kollektiv-Autorin Lea, die dann zum Beispiel mit Robin Haefs schreibt, einem Fun-Rapper aus SDP-Kreisen, der für Samra, Forster, Helene und Konsorten aktiv ist. Erwartet Lea wirklich, dass so jemand ernsthaft Stunden darauf verwendet, einen ernsten Text über Melancholie abzuliefern?

Manchmal glücken die Bilder und Stimmungen: "Ist der Himmel schwärzer als Tinte / scheint der Mond für mich, und ich singe." Auch sehr gut hört sich der Einstieg in "Welt" an: "Mit klirrendem Kopf wurdest du wach / die Wohnung ist kalt / Wasserhahn tropft, Baustellen-Krach / Kühlschrank ist leer, Tagebuch voll mit dunkelsten Zeil'n (...) Traurigkeit kriecht unter die Haut wie Januar-Wind." Womöglich gab es für den Refrain einen Autorenwechsel, denn die Lyrik kippt unvermittelt ins klischeehafte Schlager-Register: "Ich halt für dich die Welt zusammen / Wenn sie über dir einbricht / Halte dich in meinem Arm / So lang, bis du wieder ganz bist." - Zweisamkeit als Absolutheitsversprechen. Wie die Kommentare auf Leas YouTube-Account verraten, finden sich ein paar Leute in diesen Texten wieder, etwa weil sie gerade akut verliebt sind.

In "Ich Bin" heißt es: "Ich sag der Polizei kein Wort / wenn du Scheiße baust (...) Mich noch stärker machen / das ist deine Superkraft / Sing für dich tausend Mal Hallelujah / ich lieb an dir, dass du so sehr an das Gute glaubst (...) Du bist das schönste Kompliment, das ich je bekommen hab." Spätestens hier schleimt sich die "Treppenhaus"-Sängerin in Andy Borgs Revier ein.

Singer-Songwriter-Akustik mit Elementen aus dem Dance-Sektor vereint Lea im Extremfall in ein und demselben Lied. Der Kompromiss erinnert im internationalen Vergleich an die von Pharrell Williams entdeckte Maggie Rogers. "Heimlich Traurig" verknüpft die Intimität des Storytellers in der ersten Person mit pulsierender Folktronica. Diese Dualität mag eng mit den beiden Seiten des Album-Themas, der Schönheit und der Zerbrechlichkeit, zu tun haben.

"Spatzen landen auf dem Nebentisch / schon verrückt, wie schön das Leben ist / und ich hab die Sonnenbrille auf / damit mir niemand in die Seele schaut / sag mir, warum das Glück nicht für immer bleibt / halt es, so fest ich kann / doch es geht vorbei." Kummer, sich einigeln, Reizüberflutung sind Leas Stichworte - und Autosuggestion. Während Schwermut noch das Leiden als wertvolle Erfahrung auskostet, lässt die Kasselerin hier depressive Momente anklingen: "Als würde jedes Wort verschwinden im Nebel, ist alles zu viel." Leas Frage, wieso Glück nicht anhält, beantwortet die Platte nicht.

"Phantasie" handelt davon, wie ein:e Ex nach der Trennung als Phantom weiterhin an der Seite herum geistert. Einem weichen Synth-Intro folgen tachykarde Trance-Beats. Das gute Ineinandergreifen der Stimmen von Lea und Lune wertet den Track auf. "Heimatplanet" treibt sich an der Kreuzung zwischen Akustik und Elektronik herum. Ernstes Piano-Spiel mit Echo-Effekten trifft auf Trip Hop-Vibes. "Du bist mеin Schatz, mein Schlüssel, mein Juwеl / Eine sternklare Nacht über meiner off'nen See", platziert Lea das Setting lyrisch ganz klar ins Schlager-Umfeld hinein. Der "Heimatplanet" ist übrigens die Person, die sie liebt, wie wir erfahren: "Du bist mein Schatz, mein Heimatplanet."

"Unendlichkeit (Bordsteingedanken)", die derzeit wohl pflichtgemäße Mental Health-Story, handelt davon, dass Zerbrechliche mehr auf sich selbst achten sollten. Ob Lea ein Swiftie ist? In einem seltsamen Lied über den Maler "Edvard Munch" mit seinen ausgezehrten, desillusionierten Gestalten, teilt sie mit, sie möchte "nie mehr jemand anderes" sein, gleichwohl "November" exakt davon handelte, dass sie eben doch gerne jemand anderes wäre. Die Ballade "November" gehört wie die Familien-Saga "Danke Dass Es Dich Gibt", der Folk-Fraktion an und wirkt wie ein inoffizielles Remake von "It's All Over Now, Baby Blue", wobei Bob Dylan in den Credits dieser extrem ähnlichen Melodie nicht genannt wird. Das Gitarrenzupfen ist so krass dem von Jim Armstrong von Them (1966) nachempfunden, dass man nur hoffen kann, Popmusik möge irgendwann wieder aus der eng gewordenen Wiederholungs-, Sample-, Zitat- und Plagiats-Spirale heraus finden.

Trackliste

  1. 1. Von Der Schönheit Und Zerbrechlichkeit Der Dinge
  2. 2. Chaos
  3. 3. Welt
  4. 4. Phantasie
  5. 5. Ich Bin
  6. 6. Danke Dass Es Dich Gibt
  7. 7. Heimlich Traurig
  8. 8. Ich Mag Dich
  9. 9. Unendlichkeit (Bordsteingedanken)
  10. 10. Heimatplanet
  11. 11. November
  12. 12. Edvard Munch

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