laut.de-Kritik
Von Chance und Last, die Tochter eines berühmten Daddys zu sein.
Review von Philipp Kause"Some like it hot and some like it co-o-old", lautet eine der berühmtesten Song-Zeilen von Dennis Emmanuel Brown. 1999 starb er mit nur 42 im Hochsommer an einer Lungenentzündung. Ohne eine "Remedy", ein Heilmittel. Kaum ein Musiker auf diesem Planeten außer Zappa und Prince hat so irrwitzig viel Material in kurzer Zeit veröffentlicht, und neben vielen Platten hat er der Nachwelt auch viele Kinder hinterlassen. Seine Tochter Marla war zwölf, als ihr Daddy starb. Als ich sie vor ein paar Jahren traf, hatte sie's noch nicht geschafft, sich durch sein Gesamtwerk durch zu arbeiten.
Auch mit ihren eigenen Aufnahmen lässt sie es langsam angehen. Seit sie im April 2015 ihr allererstes Lied auf einem anderen berühmten Zitat ihres Papas, "no man is an island, no man stands alone", aufbaute, ergab sich noch nicht der passende Zeitpunkt für ein Debütalbum. Die heute 36-jährige Künstlerin mit der seelenvollen und sehnsüchtigen Stimme hat es einigermaßen schwer im Reggae-Mainstream. Als klassische Spätstarterin fand sie mit ihren eigenen Vorstellungen hintersinniger Spiritualität und Tiefe bisher keinen festen Platz in der Musikindustrie. In England sozialisiert, in London ("LDN"), zählt sie nicht zum jamaikanischen Milieu: Sie repräsentiert keine 'Ghetto'-Herkunft, sondern dockt eher wie die Australo-Mexikanerin Nattali Rize von außen an - beide teilten sich sogar mal eine WG.
Als Stimme und Persönlichkeit, um das gute alte Schiff Roots Reggae zielsicher und glaubwürdig durch die 2020er Jahre zu bringen, ohne dass es im Pop-Strudel versinkt oder in der absoluten Nische untergeht, ist sie mit fettem Ausrufezeichen hervor zu heben: als bedeutende Lyrikerin, als angenehme Sängerin, als Frau, die ihre eigene Chefin ist, und als glanzvolle Performerin auf der Bühne, mit Erfahrung als Tänzerin.
Als Dennis Browns Tochter arbeitet sie im Spagat, sich selbst zu positionieren, aber auch sein Erbe weiter zu tragen, das sie sehr verehrt. In "Revolution, Pt. 4 ft. Kardinal Offishall + Dennis Brown" greift sie sogar auf eine Tonspur von ihm zurück. Sein Erbe ist seine Haltung: Kleine Gesten der Liebe sind immer über den Egoismus zu stellen, oder um es mit dem Slogan einer alten TV-Show zu sagen: Bei "Geld oder Liebe?" wählen seine Song-Texte immer die Liebe.
Nach dem Motto "each one teach one" soll sich diese Einstellung wie bei einer Graswurzelbewegung von einer zur nächsten Person übermitteln und alle so 'anstecken', dass sie in der gesamten Gesellschaft Konsens wird - Marlas Teilziel-Revolution oder eben "Revolution Pt. 4", gegen einen Alltag mit Druck und Sorgen: "Love and unity, we focus on solutions!"
Im Vergleich mit den ersten beiden Marla-EPs "Survivor" und "Deliverance" zeigt der Sound eine deutliche Wandlung. Vom üblichen One Drop des Roots Reggae wendet er sich ab. Der kommt nur einmal in "Heartstrings" zum Vorschein. Allerdings markiert genau dieser Track mit seinen Harmonien und seinem Flow ein Highlight der EP. Die Reise führt indes auf den meisten Tracks hin zu einer Anreicherung mit Afrobeats. Entsprechend digital bounzt das meiste, entsprechend fraglich ist die Zuordnung entlang Papas Slogan "Some like it hot, some like it cold." Die Lyrics brennen vor Wärme, die Beats erleiden einen Drift ins Unterkühlte.
Andererseits ist anerkennenswert, wie Marla nun den üblichen Afrobeats-Dancehall-Pop-Bummelsound umsetzt: nämlich ästhetisch, weich, detailverliebt und behutsam. Etwa im zaghaften, sanften Outro von "P.D.S.T.M. ft. Oranje" fällt bei 17 Sekunden Wabbel-Loop ihre Liebe zum Neo-Soul auf, etwa zu ihrer Heldin India.Arie.
"P.D.S.T.M." heißt komplett ausgesungen "Please Don't Stop The Music" und spielt auf Rihannas gleichnamigen Hit an, der wiederum auf Manu Dibangos "Soul Makossa" beruht. Über Rapper Oranje lässt sich bis dato nichts ins Erfahrung bringen, seine Sache macht er allerdings trotz Autotune mit solcher Leichtigkeit und so gut, dass man seine Ansage "everything so sweet now, play in repeat now" unterschreiben kann. Stark repeat-würdig erweisen sich auch der lässig pumpende Drum'n'Bass-Tune "Lighter ft. Joe Goddard" mit Ohrwurm-Refrain ("doom-da-da-doom") und der melancholische R'n'B-Afrobeats-Schmachter "Soar" mit Schepper-Percussion, verträumten Lounge-Loops, Saxophon-Gesäusel und Marla in ihrer anrührendsten Stimmlage.
Andere Stücke lassen sich zwar leicht anhören, verzichten aber auf den Kern der meisten hier angeschnittenen Musikrichtungen: rollende Bässe, deren Vibration sonst den Kitt zwischen schlurfend-verschlumpft und erhebend-vorwärts schwingend in all den Offbeat-Genres auszeichnet. Gerade der Opener und Titelsong "Remedy" reißt aber nicht so ganz mit.
Sehr gut glücken die Urban Vibez dafür in den Gedanken über die Großstadt-Menschen von London im Duett "LDN ft. Moeazy". Fürs beruhigend besinnliche "D.Y.O. (Design Your Own)" unterlegt Marla die klackenden Beats mit Streichern und formt einen weiteren Höhepunkt. Ihr ganz großer Anziehungspunkt in allen Tunes: In ihrer Stimme und lockeren Gesangstechnik schwingt viel mit. So wirken die Unschuld, die Hoffnung, der liebevolle Zuspruch, all das, was sie ausstrahlt, unwiderstehlich. Sie vernieten die Niedlichkeit des Neo-Soul, das Pathetische des Lovers Rock, das Sportliche des Londoner Afro-Bashment-Style, das Eingängige des Pop, das Repetitive des Reggae und das Vehemente des Hardcore-Rappens ihres kanadischen Gasts Kardinal Offishall, außerdem das Gedimmte des Downbeat und das Dudelnde des heutigen Digital-Dancehall perfekt miteinander.
Hört man Marla länger und in repeat zu, kann man sich super vorstellen, wie wohl auch ihr Dad heute zu Afrobeats singen würde. Möge der Durchbruch für Marla bald kommen - sie hat das Gespür und die Consciousness, neue Hörer*innen-Kreise jüngerer Generationen für die alten Messages zu erschließen. Und die Herzlichkeit und Stil-Offenheit, um in Alicia Keys' Fußstapfen zu treten. Nicht nur im Rasta-Lager, auch im gut gemachten Soul und R'n'B herrscht ja Fachkräftemangel an Leuten mit fundierten Texten, die wirklich singen und live entertainen können.
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