laut.de-Kritik

Eine Löwin, die keiner aufhält.

Review von

Die einstige Straßenmusikerin Nattali Rize bleibt auf "Liberate" politisch und rebellisch. Sie bietet etliche Feature-Gäste auf, die man als Verkörperung der Ursprünge und Gegenwart des Roots-Reggae betrachten darf: Seniorin Judy Mowatt, die zehn Jahre lang für Bob Marley Harmonies und Vorprogramm sang, seinen 2022 verstorbenen Enkel Jo Mersa, Kumar Bent, Kabaka Pyramid und US-Barde Mike Love. [

Gleichzeitig verwirklicht sie mit Rock-Elementen einerseits und mit den Balladen "Fear And Dread", "Freedom", "Roads" und "Fear And Dread Reprize" andererseits spezielle Spielarten des Rasta-Sounds für Leute, die sich zwar mit den Werten dieser Kultur identifizieren, mit dem Klangdesign, das nach Bob Marley kam, aber nichts anfangen können. Wie Jimmy Cliff ist sie eine Hybrid-Künstlerin und Brückenbauerin zwischen den Kontinenten. Gleichwohl stammt sie nicht aus der Karibik.

Rize schuf ab 2004 ein Jahrzehnt lang in Australien eine bezaubernde Musikmischung. Zu der Zeit nutzte sie weder das Etikett Reggae noch ihr Pseudonym, das mit den jamaikanischen Patois-Wörtern 'natty' (Dreadlock-Trägerin) und 'rize' spielt, aufbegehren und aus Unterdrückung herauswachsen. 2009 marschierte sie der Fridays for future-Bewegung vorneweg, als sie das Bestreben Al Gores unterstützte, die USA auf einem Klimagipfeltreffen in Kopenhagen zu einem Abkommen zu verpflichten, das die fossile Energienutzung einschränkt, und den Song "Rush" dafür schrieb. Im selben Jahr gab sie ihr erstes Deutschlandkonzert in Berlin.

Vor zwölf Jahren zog sie nach Jamaika und lebte in einer Wohngemeinschaft unter anderen mit Dennis Browns Tochter Marla. Im Produktions-Duo Notis fand Nattali ihre ersten Riddim-Makers, die ihr genau den Bubble-Sound schneiderten, mit dem Chronixx, Protoje, Kabaka und Co. das Roots-Revival einläuteten. Sie wurde anerkannter Teil dieser Bewegung, neben Jah9 und mit ihr als Feature-Gast deren prominenteste und meistgebuchte Frau. Mit Kabaka ergaben sich mehrmals Duette, da er und Nattali einander immer wieder zu fundierten Texten inspirieren, hier nun zu "Brave Heart ft. Kabaka Pyramid" und "This World ft. Kabaka Pyramid + Stu Brooks".

'Wir lassen uns nicht unterkriegen in dieser Welt', so lautet nun die Botschaft des ganzen, vorliegenden Albums. Es war seit über fünf Jahren angekündigt. Die Stücke warteten lange auf den richtigen, post-pandemischen Moment. "Indestructible ft. Kumar" lebt von Optimismus, Ausgelassenheit und Schwung. Obschon der zugehörige Videoclip auf einem nicht allzu einladenden Parkplatz entstand, macht die ungekünstelte Choreographie deutlich, welche Lebenseinstellung die beiden verbindet, Nattali und den ehemaligen Raging Fyah-Frontmann: Das System, in dem wir uns zurecht finden müssen, ist menschengemacht.

Daher liege es an uns selbst, einen Gegenentwurf durchzusetzen, für solidarische 'Unity', Selbstbestimmung, Widerstand und Rebellion ("This World ft. Kabaka Pyramid + Stu Brooks"), Mut und Tapferkeit ("Brave Heart"), gegen Ungerechtigkeit, Zerstörung von Ressourcen, autokratische Tendenzen, Entfremdung, Ausspioniertwerden von Smartphones. Und dann noch diese Multi-Konzerne, die Palmöl ins Essen panschen und Kinder süchtig nach Zucker und Glutamat machen - "poisoning the food and the minds of children, too", wie es weiter im Titellied heißt.

Nationale Grenzen dürften der Menschlichkeit keine Grenzen setzen, predigt Nattali seit Jahren auf der Bühne. Sie übersetzt dies stets in die Sprache des Landes, in dem sie auftritt. Furcht, sich zu blamieren, hat sie keine. Sie erlebt stattdessen viel Zusammenhalt auf ihren Konzerten, die manchmal zu echten Gruppen-Erlebnisse werden, sobald sie dazu aufruft, die anderen Leute um sich herum anzugucken. "We're seeking soul connections, out towards all directions (...) We build our own stories (...) The more we come together / the more we find our strengths / Then we're gonna have things our way", claimt sie entsprechend in "Fear And Dread".

Die Sozialisation als Dreadlock-Rasta schütze davor, besagt diese feinfühlige Hymne. "No real authority, I'm not walking in fear (...) these are some dangerous times, we'll protect our times", heißt es weiter in "Liberate ft. Judy Mowatt". Die 72-jährige Judy, eine der I-Three neben Marcia Griffiths und Rita Marley, stimmt ein und zitiert die alte und zeitlose Wendung aus dem "Redemption Song": "Emancipate yourself from mental slavery!"

Mit ihrer kämpferischen, manchmal kratzig enervierenden Stimme passt die Wahl-Jamaikanerin Nattali zu ihren eigenen Instrumenten: Feurig getrommelte Percussions und das Megaphon, vertraut aus Demonstrationen. Mit Nachdruck steht sie für ihre Inhalte ein. Einer davon lautet Feminismus, Präsenz von Frauen. Nattali glaubt fest daran, die Welt wäre eine andere, mit Werten wie Friedenssicherung und Fruchtbarkeit, würden Männer ihre femininen Seiten ausleben. Auch auf den Frieden hebt ihr Promi-Gast Mowatt im Liedtext ab.

"Für mich ist das ein wahr gewordener Traum", schwärmt Nattali, "weil ich buchstäblich damit aufwuchs, ihr zuzuhören. Meine Mutter legte ihre Platten auf. Somit liebte ich Judy schon von Kindesbeinen an. Und nun, als ich mein Lied 'Liberate' schrieb, empfand ich es so, dass es sich nach dieser Generation anhörte. Es wirkte wie aus dieser Ära. Als ich es fast fertig hatte, lag der Track aber über ein Jahr lang herum (...) bis ich jemandem begegnete, der Judy kannte. Ich traf sie dann erstmals in den Tuff Gong-Studios", erzählt Rize. Die eigenen Held:innen zu treffen, ist gefährlich, man kann enttäuscht werden. Doch Nattali wurde richtig happy, als sie auf die ehemalige Gaylette und Wailers-Sängerin traf.

"Sie war so lieb, und dann sang sie ihren Teil, und ich staunte - 'oh my God!' Ihre Stimme ist eine Naturgewalt! Sie ist genauso, wie ich sie in Erinnerung habe, seit ich aufwuchs. Und ich erkannte, warum wir solche Personen Legenden nennen. Ich rief sofort meine Mum an, schrie ins Telefon 'ich habs!' - Sie konnte es erst gar nicht glauben. Ich wiederum fühle mich sehr geehrt, jemanden wie Judy zu ehren: In der Musik, in der Message und in der Weise, wie wir den Song vortragen."

Musikalisch ungewöhnlich für heutige Rasta-Mucke ist die fette Keyboards-Dominanz in diesem kämpferischen Titelstück wie auch im wunderschönen "Fear And Dread". "Fear And Dread" komponierte Nattali mit ihren Bandmitgliedern, dem Keyboarder und Gitarristen Spyder, ihren beiden Bassisten Sparrowroots und Carlo Santone sowie Drummer und Ko-Producer Horace 'Yellow Drums' Ellis komponiert und zu einem edlen Juwel arrangiert. In der "Fear And Dread Reprize" hört man es in einer Klavier-Version. Die meisten anderen Stücke entstanden mit Producer Stu Brooks, dessen lange Geschichte von posthumen Bass-Aufnahmen für Tupac über die Mit-Entdeckung von Lady Gaga, eine Tournee als Bassist für Dr. John bis zu Studio-Sessions mit Matisyahu reicht.

Nattali steht in "This Sound ft. Jo Mersa Marley + Stu Brooks" für ihre und fürs Upliftment der Roots-Musik ein: Eine Löwin, die sich nicht aufhalten lasse und das Publikum in 'warriors' verwandele, die für ihre Rechte einträten. "In a time of elevation you need no invitation / you just free your mind, forward in and join the formation / yeah, I took it from the streets to bring it this far." Sehr viel Text bringen sie und Jo Mersa pro Takt unter, im Wissen, wie man Message-Raggamuffin baut. Doch auch die Hippie-Rebellion 1967/68 keimt wieder auf.

Duettpartner Jo Mersa nahm das Stück schon 2022 mit Nattali auf, in einer Zeile spielt er auf Covid-19 an - und dann starb er im Dezember 2022 an einem Asthmaanfall. Der Sohn Stephen Marleys wurde nur 31. So steckt viel emotionales Beben in dieser Platte, die zwischen Folktronic-Snares ("Believer ft. Mike Love"), Mitsing-Hymne ("Tomorrow"), Tanzanleitung ("Indestructible ft. Kumar") und 70er-Nostalgie viele Ebenen durchläuft.

Trackliste

  1. 1. This Sound ft. Jo Mersa Marley + Stu Brooks
  2. 2. Liberate ft. Judy Mowatt
  3. 3. Freedom
  4. 4. Brave Heart ft. Kabaka Pyramid
  5. 5. Fear And Dread
  6. 6. Roads
  7. 7. This World ft. Kabaka Pyramid + Stu Brooks
  8. 8. Believer ft. Mike Love
  9. 9. Indestructible ft. Kumar
  10. 10. Tomorrow
  11. 11. Fear And Dread Reprize

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