laut.de-Kritik
Eine elektronische Zeremonie, die hypnotischer kaum sein könnte.
Review von Toni HennigAuf "All Melody" von 2018 widmete sich Nils Frahm mehr der Elektronik als je zuvor. Für die Livetournee zur Platte spielte er über 180 Auftritte rund um den Globus. Den Auftakt bildeten dabei mehrere Konzerte im Saal 1 des Berliner Funkhauses, der sich neben seinem Studio befindet. Die bestritt er kurz vor der Albumveröffentlichung im Januar des selben Jahres. Im Dezember 2018 kehrte er an diesem geschichtsträchtigen Ort für vier weitere Shows zurück, die bis zum letzten Platz gefüllt waren. "Tripping With Nils Frahm" stellt nun die Essenz dieser vier Abende dar. Die Live-Scheibe erscheint zunächst digital. Physische Formate folgen Ende Januar.
Zunächst schälen sich in "Enters" gleichbleibende, einsame Harmonium-Klänge heraus, so dass die Nummer eine gewisse Melancholie ausstrahlt. Die leiten gegen Ende majestätisch in "Sunson" über. Das Stück beginnt mit zaghaften Klavier-Tönen. Danach geht es nach und nach in immer tranceartige Sphären. Dabei kommt es zu einer fast schon meditativ anmutenden Verschmelzung elektronischer und natürlicher Komponenten. Ab und an setzt sich Nils auch ans Fender Rhodes-Piano, um ein paar jazzige Einschübe einzustreuen.
Auf die braucht man danach in "Fundamental Values" ebenfalls nicht zu verzichten, wenn man seinem lebendigen Spiel am klassischen Klavier lauscht. Gegen Mitte versetzt er dann mit Chören, hektischen Breakbeats und progressiver Elektronik seine Hörer in ekstatische Rauschzustände. Vierzehn Minuten dauert dieser Trip. Auch im weiteren Verlauf schichten sich die Tracks zu über zehnminütigen Elektronik-Epen. Dabei lassen sich die beiden Stücke "All Melody" und "#2", die rotierende Synthesizer-Töne und Techno-Beats durchziehen, als zusammengehörige Einheit ansehen.
Nur mutet das erstgenannte Stück mit seinen Chören etwas sakraler an, während sich das zweitgenannte Stück zum tanzbaren Höhepunkt des Live-Albums aufschwingt, der kaum ein Bein still stehen lässt. Somit haben die Abende im Funkhaus geradezu den Charakter einer elektronischen Zeremonie, die hypnotischer kaum sein könnte.
Dazwischen hört man mit "My Friend The Forest" und "The Dane" zwei ruhige und impressionistische Piano-Stücke. Die zeigen leider das Hauptproblem von Frahms klassischen Kompositionen auf, nämlich dass sie in ihrer Schlichtheit und kühlen Nüchternheit etwas Gefälliges ausstrahlen. Dadurch bleibt nicht mehr als Hintergrundmusik, die kaum einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Die Hinwendung zu überwiegend elektronischen Klängen auf "All Melody" stellte somit einen Schritt in die richtige Richtung dar. Am Ende schließt sich der Kreis zum Beginn, wenn man in "Ode – Our Own Roof" erneut durchgängig bedächtigen Harmoniumsounds begegnet.
Parallel zum Live-Album gibt es auch einen Konzertfilm. Die vier Abende hat nämlich Frahms langjähriger Freund und Regisseur Benoît Toulemonde für einen rund 90-minütigen Film in Bildform festgehalten, der den selben Namen wie die Platte trägt. Für die Co-Produktion zeichnet sich unter anderem Brad Pitt verantwortlich. Der Film läuft bis Anfang nächsten Jahres auf der Streamingplattform Mubi und fällt musikalisch mit der Live-Scheibe nicht deckungsgleich aus.
Der verdeutlicht, dass ein Konzert des mittlerweile 38-jährigen eine Menge Aufwand bedeutet. Der Pianist und Musiker wechselt, umgeben von Tonnen an elektronischen und natürlichen Gerätschaften, zwischen Synthies, Pianos, Effektgeräten und Mischpulten kontinuierlich hin und her. Auch stehen mehr seine virtuosen Qualitäten am klassischen Piano im Vordergrund als auf dem Live-Album. Dabei hält die Kamera mit dem größtenteils schnellen Tempo Frahms mühelos mit, so dass ein intimes Bild eines Künstlers entsteht, der live ganz aus sich herauskommt.
Der Präsentation haftet dabei mit schlichten Schwarz-, Weiß- und Ockertönen etwas Schweres und Strenges an. Sie hat dadurch aber auch etwas Zeitloses. Zudem gehen bis auf eine kurze, fast unmerkliche Überblendung die verschiedenen Szenen nahtlos ineinander über. Ab und an hält die Kamera auch mal auf die einzelnen Zuschauer. Dennoch wirkt der Blick auf das Publikum distanziert, was auch der einzige Kritikpunkt des Films wäre. Etwas mehr Live-Atmosphäre hätte es schon sein können.
Ansonsten hält Toulemonde sämtliche Details auf der Bühne in klaren Bildern fest. Auf unnötige visuelle Effekte verzichtet er. Diese Feinheiten machen sich auch im Ton deutlich bemerkbar, wenn man die natürlichen Geräusche des Pianos bei jedem einzelnen Tastenschlag bewusst wahrnimmt.
Höhepunkt des Konzertfilms bildet der Moment, als Frahm in "Toilet Brushes" Toilettenbürsten zu Percussion-Instrumenten umfunktioniert, nur um kurz darauf mit "More" noch die letzten Zuschauer aus ihren Sitzen zu reißen, wenn am Klavier eine schnelle Akkordfolge die nächste jagt. In solchen Momenten empfindet man eine gewisse Traurigkeit darüber, dass man an einem dieser vier Abende nicht dabei gewesen war. Dafür schürt der Konzertfilm auch Vorfreude auf die Zeit nach Corona.
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