laut.de-Kritik
Die Definition von Musik.
Review von Manuel BergerMusikjahr 2014 – deine zweite Hälfte interessiert mich nicht mehr.
"Heritage" spaltete 2011 die Fanlager. Diejenigen, die sich noch immer Growls zurückwünschen, werden auch diesmal enttäuscht sein. Glücklicherweise gab Mikael Åkerfeldt den Forderungen nach Wurzelkunde nicht nach und setzt den eingeschlagenen Weg der Entwicklung fort. Mit "Pale Communion" präsentiert er das vielschichtigste und vielseitigste Werk seiner Karriere. Es ist fast schon schade, dass es sich dabei um eine Neuerscheinung handelt. Ohne zu zögern würde ich "Pale Communion" als Meilenstein kategorisieren.
Obwohl das Album rein stilistisch wohl "Heritage" am nächsten kommt – "Pale Communion" ist eine völlig andere Baustelle. Das fängt beim Songwriting an, dehnt sich zur Grundstimmung aus und endet beim allumfassenden Charakter des Releases in Bezug auf das bisherige Schaffen Opeths. Im Gegensatz zu "Heritage", wo der Songaufbau insgesamt "geschlossener" wirkte, kehrt Åkerfeldt jetzt zurück zu seiner alten Methode und baut seine Kompositionen klötzchenweise auf, lässt sie wachsen und wuchern und häufig Kehrtwenden vollziehen, so dass sie anfänglich fast bruchstückhaft wirken. Was nicht heißen soll, dass das "Heritage"-Schema gänzlich vergessen ist. Die verspulten 70s-Prog-Riffs sind weiterhin präsent und auch eher geradlinige Strukturen bahnen sich gelegentlich ihren Weg. Tendierte Åkerfeldt früher gerne dazu, eine einzige Melodie minutenlang schweben zu lassen und auszukosten, reduziert er sie hier auf ihre Essenz.
Die Gefühlswelt in "Pale Communion" erinnert dabei an die Ära "Damnation" oder geht zurück zu den Tagen von "Still Life". Wo "Heritage" eher hell klang, wird "Pale Communion" düster und karg, birgt aber dennoch einen stetig überdauernden und warmen Hoffnungsschimmer. Ein Abendrot, das langsam in die Nacht gleitet. So besitzt "Pale Communion" viel von der Dunkelheit vorhergehender, noch vom Death Metal geprägten Alben. Oft rechnet man sogar beinahe damit, dass Åkerfeldt zum Growl ansetzt.
Schon "Eternal Rains Will Come" besitzt einen Facettenreichtum, von dem die meisten Progressive-Bands ihr Leben lang nur träumen können. Das einleitende, von Keyboards und nervös-einprägsam rotierendem Schlagzeug dominierte Energiebündel verflüchtigt sich bald zu sanften Klavier- und Gitarrenklängen. Bald schält sich eine filigrane Melodie aus der Stille und demonstriert einmal mehr Åkerfeldts Fähigkeit, aus einer eigentlich simplen Aneinanderreihung weniger Noten außergewöhnliche Tonfolgen zu schöpfen. Und die präsentiert er auf "Pale Communion" in Hülle und Fülle.
"Cusp Of Eternity" fördert danach die sich durch das gesamte Album ziehenden orientalischen Einflüsse am stärksten zutage. Der hypnotische, scheinbar ziellos treibende Rhythmus in Kombination mit ungewohnter Harmonieführung mag zunächst befremdlich wirken, wächst aber nach einigen Durchläufen zu einem pulsierenden Juwel. Trotz der Komplexität versteckt sich darin – ebenso wie im verästelten Opener – so etwas wie Ohrwurmpotenzial.
All das bereitet jedoch nur auf kommende Höhepunkte vor. Davon ist zweifellos einer der dritte Track "Moon Above, Sun Below". Über knappe elf Minuten erstreckt sich der längste Song des Albums und vereint "Heritage" mit "Watershed" und "Ghost Reveries". Akustikintermezzos wecken Erinnerungen an "Windowpane". Im Mittelteil erfolgt ein jäher Einschnitt, nach einer kurzen Stille blitzt "Storm Corrosion" auf. Und diese Vocallines! Mal gleicht sich Åkerfeldt den Gitarren an, schmiegt sich an Drums und Keyboards oder entwickelt ergänzende Ebenen, die schlichtweg zum Besten gehören, was die Musikwelt je gehört hat. Insbesondere im großen Showdown, zu dem sich das Lied beständig aufschaukelt, um dann endlich erlösend darin aufzugehen, zeigt sich Opeths gesamte Klasse im Zusammenspiel von Instrumenten und Stimme.
Nach diesem Fest der Progressivität, fährt die Band ihre Motoren leicht zurück. In "Elysian Woes" geht sie vergleichsweise reduziert zu Werke und lässt mit zurückhaltender Flöte und Clean-Gitarre "Hessian Peel" wiederaufleben. Gelegentlich setzt eine Akkordfolge Akzente, die soundmäßig einem Steven Wilson-Album entstammen könnte. Zudem deutet sich in "Elysian Woes" der Singer/Songwriter-Einfluss Nick Drakes an, der später auch "River" prägt.
Dazwischen fügt sich das ausschließlich instrumental gehaltene "Goblin" – "The Lotus Eater" lässt grüßen. Anstatt sich zu sehr an die namens- und inspirationsgebende italienische Combo anzulehnen, emanzipiert sich Åkerfeldt gekonnt von deren Vermächtnis, ohne es komplett zu verleugnen. "Goblin" mag der unspektakulärste Song des Albums sein. Doch auch er ist ein Musterbeispiel für die meisterhaften technischen und dynamischen Fähigkeiten der beteiligten Musiker. Martin Axenrot an den Drums verbindet Songdienlichkeit und höchsten Anspruch auf atemberaubende Weise. So gut sein Vorgänger Martin Lopez gewesen sein mag und so sehr ihn sich einige zurückwünschen – nach dem Hören von "Pale Communion" schreit niemand mehr nach ihm. Was Axenrot hier abliefert, stellt das Schlagzeugspiel sämtlicher anderen Opeth-Alben in den Schatten. Rhythmuspartner Martin Mendez am Bass steht dem in nichts nach. Seine jazzigen Lines sind ohnehin seit jeher weit mehr als nur Fundament und Gitarrenbackup.
Ebenfalls kontinuierlich in den Vordergrund spielte sich im Verlauf der jüngsten Veröffentlichungen das Keyboard; beziehungsweise im Studio jedwede Art von Tasteninstrument – von klassischem Flügel bis hin zu nostalgischem Fender Rhodes oder Mellotron. In "Goblin" darf sich Joakim Svalberg dementsprechend richtig austoben und erringt im Laufe der viereinhalb Minuten langsam, aber stetig die Rolle des Taktgebers. Nach einem kurzen Solo und einem zeitweisen Duett mit den Gitarren, das schnell zum Duell ausartet, hat er endgültig die Überhand und zelebriert dies mit einem fantastisch groovenden Riff. Mikael Åkerfeldt und Fredrik Åkesson machen erwartungsgemäß auch in untergeordneter Position eine hervorragende Figur und stellen weiterhin den Dreh- und Angelpunkt in Sachen Dynamik dar.
Letztere spielt selbstverständlich auch im balladesken "River" eine entscheidende Rolle. Das Stück erweist sich als Kombination der beiden unmittelbar zuvor gelisteten Tracks. Nach ruhigem Beginn, in dem wie angekündigt Nick Drakes gesangliche Vorarbeit zum Tragen kommt, gewinnen abermals nach und nach die Keyboards an Dominanz. Im zweiten Teil sieht man sich plötzlich mit einem "Luminol"-artigen Jazzgefrickel konfrontiert, das tatsächlich in ein "Heir Apparent"-Gedenkriff mündet. Und erneut, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Die Vocallines! Kurz vor Schluss packt Åkerfeldt einen Übergang aus, bei dem man am liebsten sofort aufspringen, nach Schweden rasen und ihn mit Küssen und Lobeshymnen überhäufen würde.
Scheinbar komplettes Neuland betreten Opeth in "Voice Of Treason". Ohne Probleme könnte das staccato vorgetragene Orchesterriff als Soundtrack eines Polit- oder Agententhrillers durchgehen. Subtile Glockentöne mischen sich unter das harsche Konstrukt, bevor eine dezente Doublebass es zum Ende hin aufbricht und einmal mehr Åkerfeldts Stimme hervorhebt. Hier kommt die sagenhafte Transparenz der Produktion besonders gut zur Geltung. Neben dem Bandchef höchstpersönlich nahm erneut Steven Wilson an den Reglern Platz. Gemeinsam schufen die beiden Prog-Gurus einen Sound, der unüberhörbar Nostalgie versprüht, gleichzeitig aber enorm zukunftsweisend ist. Detailreich rückt er jedes Instrument ins rechte Licht und lässt vor allem dem Bass seinen wohlverdienten Freiraum, ohne ihn zu prominent darzustellen. Egal ob laut, leise, dicht oder sparsam instrumentiert – nichts verschwimmt oder geht im Gewirr unter.
Sobald "Voice Of Treason" in einem sanften Vokal/Piano-Duett verklingt, leiten Streicher nahtlos zum abschließenden "Faith In Others" über. Im Grunde bauen Opeth hier über sieben Minuten eine einzige Melodie auf – durchbrochen nur von einem erneuten Klavier/Gesang-Zwischenspiel. Aber was für eine Melodie! War ich bis vor kurzem noch der Ansicht, "The Raven That Refused To Sing" würde so schnell nichts mehr toppen, belehrt mich Mikael Åkerfeldt nun eines Besseren. Noch nie vereinigten sich Elemente der Klassik so perfekt mit denen des Rock. Wobei Genrebegriffe in diesem Fall eigentlich nur in die Irre führen können: Das ist kein Rock, das ist keine Klassik, das ist ganz bestimmt kein Metal – das ist die Definition von Musik!
Besser kann man ein Album nicht abschließen. Außer vielleicht mit "Blackwater Park". Nur hat Åkerfeldt das ja bereits 2001 getan.
36 Kommentare mit 54 Antworten
Die totale Geilerei. Gefällt mir sehr gut, und wer das Gegrunze vermisst, soll Bölzer hören.
Das Gegrunze gehört zu Opeth wie die Butter aufs Marmeladen-Brot. Wenn ich so Musik hören will, dann vergehe ich mich an den Originalen. Werde zum ersten Mal nicht live zu Opeth gehen - die gähnende Langweile dank fehlender Intensität war schon bei der letzten Tour grenzwertig, wird hier aber noch gesteigert. Ich will Opeth und nicht Steven Wilson oder Gentle Giant oder Änglagård.
Guter und richtiger Kommentar, dem ich so zustimmen kann. Zumindest in Teilen. Das "Ich will Opeth und nicht Steven Wilson oder Gentle Giant oder Änglagård" sagt eigentlich alles, denn genau so ist es (Bands, die ich auch genannt hätte). Dennoch finde ich Pale Communion nicht schlecht und einige Lieder sind schon nach wenigen Läufen echte Bretter.
Heult doch.
@ JaDeVin: Dann hättest du mal zu einem der Unplugged Konzerte gehen sollen, bei denen auf Anathema gespielt hat. Wenn du diesbezüglich von gähnender Langeweile sprichst, ist das ziemlich beknackt. Und Steven Wilsons Band ist noch wesentlich besser live, als man durch all das positive Feedback erahnen könnte. Ich sage nur Watchmaker in Frankfurt.
Scheisse, ist das eine lange Rezension. Da scheint jemand echt Gefallen am Werk gefunden zu haben. Ich hole es mir im Laufe des Tages, habe den Stream bislang bewusst ignoriert und kann es kaum erwarten!
Da spielt der Raven für mich aber noch in einer ganz anderen Liga. Trotzdem guter Abschlusssong.
Dieser Kommentar wurde vor 10 Jahren durch den Autor entfernt.
Man kann bei Opeth immer sicher sein, dass es was großes wird. Ich persönlich habe das Album noch nicht gehört, kenne aber alle anderen von ihnen und weiß genau, dass für jeden was dabei sein wird. Das Spektrum Opeth´ ist so breit gefächert und das macht diese Band aus. Was ich erwarte? :
Chefsessel nach hinten, PLAY.
Absolute Zustimmung! Schade für diejenigen, die verzweifelt vor den Boxen auf Growls warten und dabei ein Meisterwerk überhören.
Ist für mich das Album des Jahres 2014.