laut.de-Kritik
Das Monster lebt!
Review von Sven KabelitzIn der Fußgängerzone von Oberursel spielt im März 2010 ein Alleinunterhalter groß auf. Die Trommel fest auf den Rücken gespannt und die Tröte unter dem linken Fuß streut er Spaß unter sein vorbeischlenderndes Publikum. Zwei Tauben gurren ihm munter zu. Zeitgleich, im nicht weit entfernten Frankfurt, stellt sich Pat Metheny auf der Bühne der ehrwürdigen Alten Oper seinem Publikum. Trotz seines aufwändigen Orchestrions im Rücken, einer riesigen Anzahl mechanischer und von seiner Gitarre aus bedienter Instrumente, und dem prachtvollen Ambiente sind beide Brüder im Geiste. Ein weiser und gutherziger Roadie hat dem Jazz-Lockenkopf in letzter Minute die Tröte ausgeredet.
Als Metheny im Januar des selben Jahres sein Album "Orchestrion" veröffentlicht, spaltet er die Jazz-Welt in zwei Hälften. Die eine lobt seinen Mut zum groß angelegten Experiment, die andere spricht abschätzig von der Roboterkapelle in seinem Rücken. Nun folgt ein Mitschnitt seines Live-Programms, der das Publikum aber außen vor lässt. Improvisationen und Klassiker des Backkatalogs lassen sich ohne Probleme in das akustische Gewirr aus Klavier, Glöckchen, Marimbas und Vibrafon einbetten.
Nur in feinen, aber effektiven Nuancen überarbeitet finden sich die Tracks von "Orchestrion" wieder. Mittelpunkt bleibt dabei der Titeltrack mit seiner optimistischen Prise Irish-Folk. Dichte Percussions drängen sich neben Methenys charakteristisches Gitarrenspiel. Den Eingang zu "Spirit Of The Air" bereitet ein singender Basslauf, begleitet vom frivolen Gezirpe der Roboterband. Diese schwingt genüsslich an der Seite des Maestro durch langgestreckten Melodien und Improvisationen.
Die deutliche Dynamik des Orchestrion, seine Abstufungen zwischen Anschlag und Lautstärke sowie das Timing, bleiben faszinierend. Nur das oft gefühllose Schlagzeug wirkt streckenweise wie ein Fremdkörper und stört in wenigen Momenten das Gesamtbild. So bleibt "Unity Village", 1976 auf Methenys Solo-Debüt "Bright Size Life" zu finden, von der neuen Umgebung weitestgehend unberührt. Doch ein ewig gleiches und blechernes Percussion-Metronom zersetzt das warme Gesamtbild.
Seinen besten Moment erlebt "The Orchestrion Project", sobald im Highspeed-Jazz von "Stranger In Town" Noten und Instrumente wilde Salti schlagen. In "80/81-Broadway Blues", einem Ornette Coleman-Medley, lässt Metheny jegliche Süße hinter sich. Für einen chaotischen Augenblick wird aus dem Orchestrion der große akustische Bruder von Zappas "Jazz From Hell"-Synclavier.
Wer sich für die Grundidee nicht erwärmen kann, wird auch mit "The Orchestrion Project" nicht gut Freund. Trennt man sich allerdings von seinen Vorurteilen, öffnet sich der Blick auf eine komplexe, aufwändig konstruierte, doch gleichzeitig schwerelose Fusion aus Jazz, Rock und brasilianischer Musik mit einer Kleinigkeit zu viel Zuckerguss. Hinter der Fassade versteckt sich ein neugieriger Geist, noch immer bereit neue Wege zu entdecken, anstatt auf ewig in alten Jazzstandards zu verweilen. Dr. Metheny Frankenstein versteht es, seiner mechanischen Band Leben aus den kalten Fingern zu kitzeln. Er verleiht seinem Monstrum eine Seele. Es lebt.
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