laut.de-Kritik

Hymnen auf der Abrissbirne.

Review von

Die Tradition will es so, dass Playboi Carti-Alben nicht einfach droppen können. Erst muss es ein absolutes Mumbojumbo sein, das nur unter endlosen Verspätungen, Fake-Rollouts und falschen Versprechungen irgendwie geboren werden kann. Und dann muss als folgerichtiger nächster Schritt natürlich auch die erste Rezeption des Albums mindestens ein absolutes Schlachtfeld sein.

Ich erinnere mich an Dezember 2020, als wäre es gestern gewesen: Ich war einer von denen, die "Whole Lotta Red" von Tag eins verteidigt haben. Der Tag, an dem der reine, nischige Hype Carti an seinem seltsamsten Moment tektonisch auf die Mainstream-Hörerschaften stieß, hatte auf allen Social-Media-Plattformen Reaktionen von Verwirrung bis Häme zur Folge. Es ist aber auch faszinierend: Es gibt keinen Mainstream-Artist, der so Mainstream-unfreundlich ist. Carti, sein Opium-Label und das aus "Whole Lotta Red" geborene Rage-Genre sind eine seltsame, experimentelle Nische, die durch die Hypebeast-Sehnsüchte seiner Teenager-Fandom auf Mainstream-Größe aufgepumpt worden sind.

Entsprechend steht sein minimalistisch benanntes neues Werk "Music" jetzt an einem seltsamen Scheideweg. Lässt man jemanden ohne Bezug zu tagesaktuellem Hip Hop auf den Intro "Pop Out" stoßen, würde dieser ver-trap-beat-ete Baustellenlärmkulisse ihnen immer noch komplett cocoloco vorkommen. Es wäre locker näher an Death Grips oder Merzbow als es an Future oder Drake wäre. Man darf ja nicht vergessen, dass große Teile unserer Gesellschaft sich unter Rapmusik weiterhin smoothen Kopfnickersound vorstellen und nicht postindustrielles Moshpit-Getöse.

Und doch ist da Fraktion b, die auf "Music" mit einem Gefühl von Ernüchterung reagiert. Sogar Worte wie "generisch" fallen da nicht so selten. Und auch das macht Sinn. Nachdem wir uns alle einigen konnten, dass "Whole Lotta Red" rückwirkend modernen Klassiker-Status erlangt hat, ob es jetzt das Ding aller Leute ist, oder nicht: Manche erwarteten jetzt von ihm den nächsten Quantensprung. Dass er fünf Jahre später das Genre noch einmal weiter in die Zukunft boxt, gar noch seltsamer und noch künstlerischer wird. Aber er bewegt sich fest in dem Feld dessen, was Artists wie Yeat, Ken Carson, OsamaSon oder Nettspend aus seinem Vorstoß als Genre abgesteckt haben. "Music" ist in vielerlei Hinsicht schon ein recht handelsübliches Rage-Album. Wer mit Releases wie "2093" oder "A Great Chaos" up to date geblieben ist, wird über "Music" nicht vom Stuhl fallen, wie 2020 alle über "Whole Lotta Red" vom Stuhl gefallen sind.

Ich glaube, ich möchte trotz ein paar offenkundiger Schwächen "Music" trotzdem ein bisschen in beide Richtungen verteidigen. Trotz seiner Überlänge und seiner teils etwas fragwürdigen Kuration habe ich einen Verdacht, was Carti hier zu tun gedacht hat. Ich glaube nämlich, dass Carti sich mit "Music" explizit dagegen wehren will, zu sehr an das Image eines nach vorne denkenden Avant-Gardisten gebunden zu werden. Am Ende des Tages sind seine größten Inspirationen doch Future, Young Thug, Travis Scott und Lil Wayne. Und auch, wenn die alle ihre Phasen der Mainstream-Idolisierung hatten, sind das doch vor allem legendäre Hometown-Heroes, die mononym mit den Sound ihrer Städte geworden sind und von den Bluetooth-Boxen der Straßen bis in die Clubs überall rauf und runter gepumpt werden. DJ Akademiks gab Cartis Wunsch weiter, Atlantas Travis Scott zu werden. Dementsprechend wirkt "Music" für mich so, als wolle er all die Weirdness und all die Vorstöße von "Whole Lotta Red" zurück in das ästhetische Framework von ATL-Produktion und Südstaaten-Rap bringen. Deswegen ist die neugeborene Stimme nach Babyvoice-Carti und rapsy Voice-Carti auf diesem Album auch ein Carti, der 1:1 wie Future klingt. Es macht irgendwo Sinn, wenn man es in diesem Kontext sieht.

Aber ja, das Projekt hat definitiv Schwächen. Es gab objektiv einfach keinen Grund, dreißig Tracks auf dieses verdammte Release zu prügeln, vor allem, wenn sie an mehreren Stellen die Kuration verwässern. Carti hat oft über sich selbst gesagt, sein Haupt-Ding als Musiker sei, ein Producer-Head zu sein: Sein Beatgeschmack und seine Selektion wäre wie bei einem Gunna eine der großen Maßstäbe seiner Kunst. Und während alte Alben wirklich virtuos darin warin, eine noch nicht dagewesene Ästhetik exzessiv, aber präzise auszubreiten, sind hier Tracks dazwischen, die einfach nicht dazuzugehören scheinen.

"Philly" ist ein erstes Beispiel dafür, mit seinem komischen Western-Beat, dessen Sample ich von way back noch aus mehreren rappers.in-Freebeats kenne: Das klingt eher nach dem komischen Kollabo-Album von Travis und Quavo von vor vielen Jahren, das niemanden interessiert hat. Die Travis-Beiträge bekleckern sich sowieso durch die Bank nicht gerade mit Ruhm. "We Need All The Vibes" war eigentlich schon lange ein Leak von Thug, der ursprünglich Gunna statt Carti neben der netten Thug-Hook platziert hätte. Und man versteht, warum das nach dem Freikommen von King Slime ein schöner Moment ist, aber der poppige "So Much Fun"-Sound passt überhaupt nicht ins aggressive Projekt des Restbildes. Kendrick Lamar kommt drei mal auf diesem Album vor, einmal für eine eher seltsame RnB-Hook und auf "Good Credit" für einen ganz guten Part - aber irgendwie fühlt sich seine Anwesenheit doch eher wie opportune Starfuckery an, die dem Restkonzept des Albums eher quersteht. Man bekommt ein bisschen das Gefühl, Kendrick würde Musik mit Baby Keem vermissen, oder so. Würde man hier kürzen und ein paar der schwächeren Nummern wie "Mojo Jojo", "Rather Lie" und "Overly" kürzen, hätte man schon einen ganz, ganz, ganz anderen Eindruck.

Denn wenn dieses Album hittet, dann hittet es ordentlich. Mehr als ein paar Mal spielt Carti hier Hymnen auf der Abrissbirne. Den unglaublich dreckigen, Boomer die Welt nicht mehr verstehen lassenden Intro "Pop Out" erwähnte ich schon, aber gerade die Anfangssektion legt stark nach. "Crush" choppt einen Chor, wie Kanye ihn um "Donda" in seinen seltsamen Industrial Gospel-Sound gelegt hätte, in elektrisierende Rage-Drums. Und wie der neue, Synth-wabernde Intro in den sumpfreckigen Beat der Single "Evil J0rdan" überleitet, ist ein absoluter Headbanger. Ich ziehe jedes Mal eine Miene, als würde ich Sumpfgas einatmen. Generell, Star-Produktionselement auf vielen Beats: Überbordende Snare-Rolls oder Live-Kicks, die so überwältigend und tektonisch durch die Rhythmus-Sektion brettern, dass Chief Keef stolz sein muss.

Es folgen viele Songs mit coolen Produktions-Ideen oder starken Hooks, die gut für sich stehen können. "Rather Lie", "Fine Shit" und "Backd00r" machen eine coole kleine RnB-Pocket im Album auf, auf denen die F1lthy-Beats mit gechoppten Soul-Samples und einem Comeback der Babyvoice aufwarten. "Toxic" hat eine der bescheuertsten, aber sofort eingängigsten Hooks des Projekts, außerdem liefert Skepta einen echt starken Part ab. Lil Uzi Vert ist in erfrischend guter Form auf "Jumpin" und "Twin Trim" zurück. Außerdem machen Future und Carti auf "Charge Them Hoes A Fee" die selbe Atlanta-Magie, die sie schon auf ihrer Kollabo "Type Shit" gemacht haben.

Generell gefällt mir das Tracklisting für diese Art Musik ganz gut. Klar, wenn man jetzt aus dem Indie-Rock kommt, wirkt das alles lieblos zusammengeschmissen. Aber in den besten Sequenzen priorisiert das Album Abwechslung und Reduktion über großes Storytelling. Jeder Song hat alle unwesentlichen Teile weggeschnitten, jeder Beat hat mindestens ein interessantes Element, ein brachiales Drumpattern oder einen dreckigen Synthesizer zu bieten. Und bevor irgendetwas sich überfüttern könnte, zieht das Tape weiter. Jeder Track hat mindestens ein Leitmotiv, eine Hook, und lässt man sich auf diesen ruckartigen, Mixtape-haften Flow ein, bleibt das Tape durchaus unterhaltsam und spannend, auch über die immense Laufzeit weg.

Aber auch Carti kommt im Mittelteil noch ein paar mal richtig gut in Fahrt. Drei Songs machen diesen Noise-Trap-Sound noch einmal so richtig dreckig, und das sind "Crank", das disgustingly harte "Cocaine Nose" und die inoffizielle Mega-Single "H00dByAir". Letztere war als Leak ja schon eine Weile draußen, an den neuen Mix muss man sich vielleicht ein bisschen akklimatisieren, aber es bleibt weiterhin ein intergalaktischer Banger. Der das ganze Projekt über charmant-nervige Swamp Izzo verkündet also auf dem atmosphärischen Outro "South Atlanta Baby" zurecht: "That's right: We created our own genre. From now on, don't box us in any category".

Und das Ding ist ja: Das klingt wie ein hohler Boast, aber es ist zu 100% objektiv die Wahrheit. Carti hat 2020 wirklich ein absolut neues Genre geschaffen - und über die letzten Jahre alle zwei Jahre eine neue Stimme aufgefahren, die die Rap-Industrie von neuem in hellen Aufruhr versetzt hat. Es hat einen Grund, dass all die interessanten neuen Rapper unter zwanzig essentiell als Carti-Klone anfangen.

Ich hätte diese Review gerne mit der Aussage begonnen, dass Carti 2024 der beste lebende Rapper war. Das wäre natürlich auf vielen Ebenen absoluter Quatsch gewesen, aber ich hätte mich gut damit gefühlt, es zu sagen. Als er das erste Mal "H00dbyair" gedroppt hat, hatte ich schon dieses Gefühl, wie man sonst unpeinlich nur Teenies haben dürfen, dass dieser komische, prätentiöse Weirdo gerade der coolste Typ auf dem Planeten sein muss. Sein Sound war sick, die Klamotten waren sick, alles, was er getan hat, wirkte wie straight aus der Zukunft.

Natürlich war er nicht der beste Rapper der Welt, aber er ist in meinen Augen da, wo Young Thug 2016 gestanden hat. Ein Typ, der wirklich an den Grundfesten dessen gerüttelt hat, wohin Rap sich bewegt. Ein extrem umstrittener Typ, dessen Alben wieder und wieder extrem polarisieren und dessen Sound kommerziell erst dann richtig Erfolg hat, wenn andere in runtergewässert weitertragen. Denn egal, wie der Konsens um "Music" jetzt ausfallen wird, man kann Carti doch nicht nehmen, dass er an einem Punkt ist, an dem jeder Hip Hop-Head hingucken wird, wenn er droppt. Auch dieses Album wird wieder Konsequenzen für Rap haben - und das ist ja schon irgendwie aufregend, es in Echtzeit zu beobachten.

Meine Vermutung bleibt, dass "Music" Cartis Versuch ist, nicht wie Thug zu verbleiben. Thug, der immer Innovator, aber erst wahnsinnig spät in seiner Karriere wirklich kommerziell erfolgreich war. "Music" ist ein zaghafter Schritt, "Whole Lotta Red" an den Punkt zu übersetzen, an dem Future und Travis gerade stehen. Er will den triumphalen Sound, den in ihren besten Momenten auch untergründigere Stadtgenossen wie SahBabii oder Lucki erreichen (siehe jüngere Hits wie "Viking" oder "Kylie!"). Ganz komisch formuliert: Carti will seinen Sound cleaner, ohne ihn cleaner zu machen. Und gewissermaßen fällt er damit in ein komisches Zwischending.

Für die Lil Baby-Polo G-Crowd ist das immer noch um viele Lichtjahre zu wild, aber für die, die ihn jetzt als diesen großen Experimentierer haben wollten, ist es zu wenig Schritt nach vorne. Aber Carti wird nie ein so kontrolliertes, kuratiertes Album wie "Utopia" machen, weil Exzess, Selbstzerstörung und Drogen so fundamentaler Teil seiner musikalischen Identität sind. Sie rechtfertigen die Überlänge und das teils irrsinnige Pacing des Projekts, aber erklären es doch ein bisschen. Ich selbst würde soweit mitgehen, dass "Music" weniger ein Event als "Whole Lotta Red" und weniger perfekt als "Die Lit" geraten ist, aber: Hier ist so viel gutes Material und so viele Banger drauf, dass - spätestens, sobald das mal auf die Live-bühnen geht - Leute es auch für das, was es ist, wertschätzen lernen werden.

Trackliste

  1. 1. Pop Out
  2. 2. Crush
  3. 3. K Pop
  4. 4. Evil J0rdan
  5. 5. Mojo Jojo
  6. 6. Philly
  7. 7. Radar
  8. 8. Rather Lie
  9. 9. Fine Shit
  10. 10. Backd00r
  11. 11. Toxic
  12. 12. Munyun
  13. 13. Crank
  14. 14. Charge Dem Hoes A Fee
  15. 15. Good Credit
  16. 16. I Seeeeee You Baby Boi
  17. 17. Wake Up F1lthy
  18. 18. Jumoin
  19. 19. Trim
  20. 20. Cocaine Nose
  21. 21. We Need All Da Vibes
  22. 22. Olympian
  23. 23. OPM Babi
  24. 24. Twin Trim
  25. 25. Like Weezy
  26. 26. Dis 1 Got It
  27. 27. Walk
  28. 28. HBA
  29. 29. Overly
  30. 30. South Atlanta Baby

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6 Kommentare

  • Vor 3 Tagen

    Pop Out ist so krass.
    Dasselbe Gefühl wie bei On Sight damals.

  • Vor 2 Tagen

    Mein größtes Problem mit dem Album ist, dass ich durchgängig das Gefühl habe dass es gar nicht das wirkliche Album ist welches Carti dropen wollte. Denke MUSIC ist jetzt nur erschienen auf Grund des Labels um keine Verluste bei den bundles zu machen. Wirkt für mich einfach so als ob das Album maximal eine Woche vor Release, noch irgendwie schnell aus rumliegenden Tracks und parts, zusammengestellt wurde um irgendetwas zu haben was man dropen kann. Hab jemandem bei Reddit gesehen der gesagt dass MUSIC wie ein poshumes Album klingt oder wie ein Fanmade Album auf YouTube welches aus leaks zusammengestellt wurde. Das fast meine Ansicht dazu ganz gut zusammen. Dafür ist die Produktion einfach zu schlecht verglichen mit seinen anderen Alben und auch so hört man an jeder Stelle dass das Album rushed ist. Klar gibt es Highlights aber insgesamt fällt es mir schwer dieses Album als zusammenhängedes Projekt irgendwie zu respektieren. Und das liegt nicht an der Grundvision die in diesem Album steckt sondern an der Umsetzung. Zusammen gecutette parts, uralte tracks aufs Album zu packen usw. Für mich klingt das Album aktuell wie Futures MIXTAPE PLUTO bloß in unfertig. Beide verfolgen ja auch eine ähnliche Vision vom Konzept her. Ich würde MUSIC echt mögen wenn es fertig wäre aber dieses Fragment eines Albums ist für mich aktuell auf VULTURES 2 Niveau. Aber dafür mit mehr Highlights. Deswegen immer noch 2/5. Tracks wie POP OUT, TOXIC oder Backdoor sind halt einfach peak carti.

    Hab diesmal auch tatsächlich das Gefühl dass er noch ein komplettes besser produziertes Album in der Hinterhand hat welches in naher Zukunft dropen könnte. Die meist erwarteten Tracks wie NUMB oder WHATS MY MF NAME sind ja seltsamerweise nicht auf dem aktuellen Album gelandet.

  • Vor 2 Tagen

    Ich habe mich lediglich berieseln lassen und fand es super. Im reinen Medienkonsum ist Carti halt nicht die Art von Künstler, über die man lange nachdenken sollte Die etlichen Adlibs, die verschiedenen Stimmen, all das deutet darauf hin, dass er mehr mit dem Gedanken beschäftigt ist, seine Vocals als Ergänzung zum Beat zu gestalten.

    Ich will jetzt nicht behaupten, dass es sich hierbei um ein Album der Meisterklasse handelt, wobei einige Songs soundtechnisch schon wirklich sehr viel stärker und kreativer sind als manches, was z. B. ein Kendrick Lamar letztes Jahr herausgebracht hat. Die Bewertung passt schon so. Nächstes Album dann aber gerne wieder unter 20 Tracks und einem konzentrierteren Sound.

  • Vor 2 Tagen

    Der Young Thug 2016 Vergleich stimmt, aber die Beats rocken hier halt nicht, könnte aber ein Generation-Ding sein. Komplett debattierbares Produkt

  • Vor einer Sekunde

    Ich hab einmal reingehört und das Fazit ist das selbe wie beim letzten Album: Hört man sich das ganze als Rap-Album an, wundert man sich doch über das sehr überdurchschnittliche Getöse rund um diesen sehr durchschnittlichen Rapper.

    Betrachtet man es als eigenständige Form der Musik, macht der Lärm in der richtigen Dosierung und Stimmung durchaus Spaß.