laut.de-Kritik

Ein dynamisches Manifest der Melancholie.

Review von

"Wieso nicht 'Paranoid & Sunburnt'?", hinterfragt Frontfrau Skin unsere Wahl dieses Meilensteins. Neben emotionalen und kommerziellen Gründen beantwortet das bereits der Einstieg in "Stoosh", dem zweiten Album von Skunk Anansie. In den 1990ern griff die lustige Mode des Hidden Tracks auf CD um sich: Song-Fragmente, die nirgends auf die Titelliste gedruckt waren, tauchten unvermittelt auf. Damals hörte man ganze Alben. "Stoosh" führt dieses Nerd-Spiel par excellence aus, platziert einen solchen gleich zum Einstieg: Fetzen aus dem Radio, ächzendes Schlagzeug, eine Stimme in Slow-Motion, Geräusche.

"Yes It's Fucking Political" setzt das Subversive gekonnt fort. Dazu tragen nicht nur der Text ("everything's satirical!"), die erdigen Riffs von Gitarrist Ace, die Stakkato-Drum-Tripletts von Mark und die "Pink Panther"-artige Bassline von Cass in den wenigen leisen Stellen bei, sondern ganz massiv auch Skins keifendes Geschrei. Im Finale wirkt es, als glitsche jemand mit nasser Seife 44 Sekunden mehrmals vor- und rückwärts über die Gitarrensaiten, es ist Skin an einem Theremin. Was am Anfang Punk zu sein scheint, klingt am Ende wahnhaft und wie eine Mischung aus Grunge und Metal. "Yes It's Fucking Political" legt eine großartig falsche Fährte für ein Album, auf dem unsterbliche Balladen überwiegen, die gebrüllte Melancholie "She's My Heroine", das zarte "Infidelity (Only You)" samt Strings sowie die Aushängeschilder "Hedonism" und "Brazen (Weep)".

Zum Kern des Albums dringt man schließlich in einem Unplugged vor, dem anmutigen "Pickin' On Me". Es scrollt zu dem zurück, was Skin zu Schulzeiten beobachtete, und es ist autobiographisch: Rassismus im Klassenzimmer, subtil, alltäglich, Lehrkräfte werden informiert, und doch setzt sich eine ausweglose Mobbing-Geschichte fort. So unscheinbar wie dieses sanftmütige Stück wirkt, ist es nicht mehr, wenn man diesen Plot dazu im Kopf hat. Es setzt das ebenfalls antirassistische, jedoch drastisch explizite "Intellectualise My Blackness" vom Vorgänger-Album auf berührende Weise fort. Von lauten Zeilen wie "The joke about the nigga and the yellow nip / Then he tells me I'm so different from those other shits" entwickelt sich die Gruppe 1996 zu verklausulierten Botschaften weiter.

"I saw a weird boy / he looked at me with a look of pure hate / Nobody knew all the grief where he'd been / he was a sad boy, he was a victim of a dirty good time (...) Soon enough, he's pickin' on me / kick my head in 'cos that's all he'd seen (...) I told my teacher / she look at me so indifferently." Ein Junge, der zuhause Hass und Vorurteile aus einer dreckigen alten Zeit eingetrichtert bekommt, die sein Elternhaus als gut und geordnet empfindet - die Zeit des kolonialen British Empire. Er kennt nichts anderes außer roher, physischer Gewalt. Die Lehrerin reagiert überfordert und unschlüssig. Der bayerische Staatsfunk adelte den Song, verwendete das markante Akustik-Gitarrenriff aus "Pickin' On Me" satte 18 Jahre lang allabendlich um 23:14 Uhr als Erkennungs-Jingle seiner Unplugged-Rubrik, so dass der Band alleine aus München Tantiemen für über 5.000 Radioeinsätze dieses Album-Tracks zuflossen.

Skunk Anansie waren nicht glücklich darüber, als schwarz-weiße Rockband vermarktet zu werden. Doch natürlich standen sie für die gelebte Integration im desillusionierten England jener kalten, neoliberalen Jahre, in denen John Major sich als Nachfolger der eisernen Thatcher anschickte, mit der Privatisierung des Zugverkehrs das Land noch kaputter zu machen. Majors Wahlkreis war Brixton: Genau dort, wo sich Anfang der 80er die von The Clash prophetisch vorausgesagten Riots abspielten. Dort, wo der Anteil der Bevölkerung mit karibischem Migrations-Background besonders hoch ist. Auch Skin und Cass haben solche Wurzeln. Und, "Yes It's Fucking Political". "Ich bin aus Brixton. Wenn du dort in den 70ern und 80ern aufgewachsen bist, wie kann dann nicht ein Teil von dir politisch sein oder empathisch für das, was du und die Community um dich herum auf sich nehmen mussten?" fragte Skin 2020 rhetorisch im Magazin Melan, anlässlich ihrer wütenden Autobiographie "Skin - It Takes Blood And Guts". Benannt hatte sie das Buch nach einem Stück vom Debütalbum, namens "It Takes Blood And Guts To Be This Cool, But I'm Still Just A Cliché".

Seither ist einiges passiert. Skins Partnerin wurde schwanger und Skin mit 53 erstmals Mutter. Cass erhielt eine schockierende Krebsdiagnose und unterzog sich einer langen Chemotherapie. Nebenbei nahm er mit der Band ein neues Album auf, das im Mai 2025 erscheint und völlig anders klingt als "Paranoid & Sunburnt", "Stoosh" oder sonst irgendein Album der Stinktiere. Die unbezwingbare Energie dieser Gruppe führt jedenfalls in diesen Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die Diskriminierung und die Herkunft aus der Working Class zurück. Da liegt die eine Wurzel: Es den Leuten mal so richtig zeigen wollen.

1996 ist das Quartett seine eigene Kategorie, es gibt keinen vergleichbaren Act, nichts zwischen Britpop, Shoegaze, Drum'n'Bass und Post-Rock, was entfernt mit Skins Gesangsstil und dem unglaublich flexiblen Switchen der Band zwischen brachial hart und unfassbar traurig-zart zu tun hat.

Wie heißt es so schön: Es gibt keine E- und U-Musik, nur gute und schlechte Musik. "Stoosh" mit seinem Kammermusik-Ausflug in drei Stücken, zum Beispiel "Infidelity (Only You)", illustriert diesen Satz plastisch. Denn rein analytisch folgt das Lied Formen und Arrangements aus einem Klassik-Kontext. Das markante Cello ruht hier übrigens in der Hand des Therapy?-Bassisten Michael McKeegan. Andererseits verkörpern Skunk Anansie Jugendbewegungen ihrer Zeit. Viele Fans ihrer aktuellen Tour scheinen sogar noch mit den Sex Pistols sozialisiert worden zu sein. Gleichzeitig strahlt gerade "Stoosh" den tiefen Weltschmerz des Grunge aus.

Cass und Skin denken noch drei Jahrzehnte später mit Schrecken an ihre Zusammenarbeit oder Gegeneinanderarbeit mit Produzent 'GGGarth' Richardson zurück, der lange danach - ab 2007 - den europaweiten Durchbruch der Schotten Biffy Clyro verantwortete. Skunk Anansie verstanden sich überhaupt nicht mit ihm, empfanden seine Arbeitsweise als nervtötend. "GGGarth ist die Sorte Produzent, der dich jeden Akkord einzeln spielen lässt. Um angeblich perfekt abgestimmt zu klingen", führt Skin aus. "Wir nahmen 'Brazen (Weep)' auf, und seine Version hatte nichts mit dem zu tun, was wir ausdrückten. Er bearbeitete die Schlagzeug-Tonspur so sehr nach, als ob er der Typ an den Drums wäre. Aber das klang nicht mehr nach Mark. Am Ende war es kein Skunk Anansie-Song mehr." - "Mich verschonte er als einzigen, aber Ace und Mark wurden in Fetzen gerissen", wirft Cass ein. "Hatten wir nicht sogar einen Track, für den wir 36 Takes aufnahmen?", redet sich Skin in Rage. Cass nickt, als wär's gestern gewesen. Empört blicken beide mich an. Es steckt ihnen offenbar bis heute in den Knochen.

Dabei stehen die beiden Instrumentalisten für eines der Gitarren-Motive der Neunziger in "Hedonism (Just Because You Feel Good)" und ein selten so fluffig gespieltes Schlagzeug, noch dazu in einem Alternative-Kontext - beinahe von Chili Peppers-Elastizität. Ansonsten eignet sich die Nummer gut für Bush-Fans. Hört man die Dynamik der leisen und lauten Stellen im dramatischen "She's My Heroine" und achtet auf die filigrane bis massive Gitarrenarbeit, muss man merken, was für ein stilsicherer Lead-Gitarrist hier führt. Das energiegeladene "She's My Heroine" legt eine geniale Sound-Kurve zurück. Es ist wie Ski-Fahren, erst lange rauf auf den Gipfel, dann blitzschnell runter ins Tal.

Als ich sie frage, ob sie damals Spaß beim Aufnehmen hatten, bricht es aus Skin heraus: "Absolut gar keinen. 'Stoosh' lag genau mitten auf dem Gipfel der Crazyness von Skunk Anansie. 'Paranoid & Sunburnt' war gerade erst erschienen, wir waren damit noch am Rudern. Wir waren durch. Und dann mussten wir aber natürlich ein weiteres Album aufnehmen. Klar, wenn du eins hast, das gut gelaufen ist, nageln sie dich auf noch eins fest. Die Sache lief viereinhalb Wochen: Wir bespielten vier Studios zeitgleich, hatten drei Sets mit Tontechnikern. Das Schreiben der Songs war purer Stress, wir traten im selben Zeitraum bei Festivals auf. Irgendwann fragte ich mich: 'What the fuck geht hier vor?' Wir gingen später ein Stockwerk höher und nahmen 'Brazen (Weep)' komplett neu auf, um da wieder Treibstoff reinzugießen. Mit Spaß hatte 'Stoosh' gar nichts zu tun."

Das war nicht zu erwarten. Die Platte strahlt tiefe Sicherheit und Geradlinigkeit aus. Nie wäre ich auf diese frustrierende Entstehungsgeschichte gekommen. Dabei ging es ja vordergründig um Hedonismus. Der packende Sehnsuchts-Schmachter "Hedonism (Just Because You Feel Good)" erfuhr dank seiner Ähnlichkeit zu diversen Folkrock-Hits des Jahres 1996 viel Radio-Präsenz und machte die Band beim breiten Publikum bekannt. Geschrieben hatte diesen Song wie auch die anderen Balladen ein gewisser Len Arran mit Skin zusammen. Was Arran heute treibt, kann sie auf Nachfrage nicht beantworten. Laut seinem Soundcloud-Profil war er 2014 noch mit der Band auf Tour und war Autor für Skins Solo-Alben, danach komponierte er Soundscapes für Computerspiele. "Hedonism" erreichte nahezu europaweit die Top Twenty, in Island sogar Platz eins.

"We Love Your Apathy" ist quasi ein Hybrid aus Cream, Nirvana und der damals aufkommenden Cat Power. Von Skins hoher Stimme und ihrer hymnisch dargebotenen Eruption lebt dieser intensive Tune maßgeblich. Der Videoclip wurde durch unzählige Statisten in Patchwork-Outfits, einen queeren Zungenkuss und den Einsatz einer Vorstufe künstlicher Intelligenz, der Verschmelzung von Computer-Grafik mit gefilmten realen Personen bekannt, die vor der Kamera verschwimmen, als ob ihre Konturen schmelzen - damals unüblich.

Die Lyrics des traurigen "Brazen (Weep)" (englisch für dreist) mit seiner "naa-na-na-na-naa"-Hookline lassen viel Deutungsspielraum: "Du hast gezittert und standest hinter dem Eis in Flammen / Warum weinst du nicht, wenn ich dich verletze? / weshalb weinst du nicht, wenn ich dich schneide? / Blutest nicht. Und der Zorn baut sich im Inneren auf / Du sprachst ein Gebet, und ich enttäuschte dich mit einem Kuss / Ich merkte von all dem nichts." Ähnlich wie "Come As You Are" von Nirvana ist "Brazen (Weep)" eine untrennbare Verbindung mit den 90ern und der damals oft therapeutischen Funktion härterer Rock-Singles eingegangen, trotzdem zeitlos geblieben. Beide eint, dass ihre Sounddesigns recht einzigartig in ihrer Zeit auftraten - bei Nirvana das Helikopter-Rotorenartige, bei "Brazen" die Led Zeppelin-artige Kombi aus Streichquartett und Beats, die sich wie Elefantenschritte anhören.

Das völlig abgefahrene "Milk Is My Sugar" ahmt einen Orgasmus nach, was auch den Albumtitel "Post-Orgasmic Chill" des Folgealbums (1999) erklärt. Der "Glorious Pop Song" entspricht ungefähr der B-Seite von Chumbawambas "Swinging With Raymond"-Album und ist nicht nur glorreich und herrlich, sondern glänzt als perfekt eingängiges Indie-Goldstück. Da das Album diesen unerwartet lockeren Abgang hinlegt, verführt es zum sofort nochmaligen Starten von Anfang an. Und man wird bei jedem Durchlauf der Scheibe immer wieder Details finden, die einem vorher nie auffielen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Yes It's Fucking Political
  2. 2. All I Want
  3. 3. She's My Heroine
  4. 4. Infidelity (Only You)
  5. 5. Hedonism (Just Because You Feel Good)
  6. 6. Twisted (Everyday Hurts)
  7. 7. We Love Your Apathy
  8. 8. Brazen (Weep)
  9. 9. Pickin' On Me
  10. 10. Milk Is My Sugar
  11. 11. Glorious Pop Song

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