laut.de-Kritik

Max Cavalera brennt lichterloh im fortgeschrittenen Alter.

Review von

"Chama" bezeichnet nicht nur Menschen aus dem wunderschönen Landkreis Cham in Ostbayern in deren eigenem Dialekt, sondern heißt auf portugiesisch Feuer und ziert das neue Albumcover von Soulfly. Die Seelenfliege verlor mal wieder ein Beinchen, Bassist Mike Leon ist nicht mehr an Bord. Wahrscheinlich besser so, denkt sich der Apachen-Kronentänzer auf dem Cover, schließlich heißt der Gitarrist seit wenigen Jahren und mit der nun ersten Albumbeteiligung Mike DeLeon – da kam Max vermutlich zu leicht durcheinander im Studio. Seinen eigenen Sohn Zyon erkennt er noch, der darf bleiben. Für Leon sprang live kurz Zweitsohn Igor Amadeus (nicht sein Onkel Iggy!) Cavalera ein, der ist aber wieder raus, denn sonst wäre das Seitprojekt Cavalera (nunmehr ohne Conspiracy im Namen) doch mit weniger Cavaleras ausgestattet als Soulfly.

Interessant auch, dass "Chama" das erste Album von Max ist, seit Kisser und Paulo Jr. Sepultura tatsächlich würdig beerdigten. Kein Wunder, dass viele "Reunion!" rufen, was Max mittlerweile selbst anheizt mit ambivalenten Aussagen in Interviews. Dass Iggy und er das Frühwerk mit den spektakulären Neuaufnahmen von "Morbid Visions", "Beneath The Remains" und zuletzt "Schizophrenia" unter dem Moniker Cavalera unverhohlen für sich reklamieren erzeugt eine fast schon zwingende Logik.

Arthur Rizk, der "Totem" ein gutes Stück weit prägte, ist auf "Chama" Co-Produzent mit Zyon. Das Ergebnis dieser Personalentscheidung, zumal, wenn der Bassist abspringt: Crunch und Fokus auf Mitte/Höhen ist unüberhörbar. Die auffällig wirr betitelten Songs fügen sich in ihrer Spiellust und Technik auf dem exzellenten Level der drei oben genannten Neuaufnahmen, Max brennt schlicht lichterloh im fortgeschrittenen Alter. "Indigenious Inquisition" führt markig, instrumental und mit einer ins Mark schießenden Drumfigur ein, die "Storm The Gates" gleich aufnimmt. Max ist wie von Rizk gewohnt etwas weiter weg und verhallt gemischt, was seiner Präsenz aber keinen Abbruch tut und dem Sound des hyperaggressiven, überbordenden Songs eine dreckige Ambiance gibt. Glänzender Beginn.

Nagelkopf Todd Jones passt sich "Nihilist" wie gewohnt überaus geschmeidig und kompetent an, ein zuverlässig kluger und stilvoller Featuregast. Die Gitarren dürfen viel mehr jaulen als im unübersichtlichen Komplettangriff "Storm The Gates", trotz gleicher Länge fühlt sich "Nihilist" viel verspielter an. Ein Remix des Songs mit seiner von Max anspruchsvoll getragenen Refrain-Brücke, deren Groove er selbst herbeikeift, in alter Soulfly-Bassmanier wäre sehr interessant. Die vorliegende Version erscheint als die viel unwahrscheinlichere und umso lohnenswertere, hier steckt eine unwahrscheinliche Arbeit im Songwriting und dem Zusammenfügen komplexer Teile. Das gilt zu Beginn auch für das aufgeregt springende "No Pain = No Power", deren Gastsänger Franco (Unto Others) und Cook (No Warning) aber völlig deplatziert eingebunden werden, während Edelgitarrengast Cazares nicht weiter auffällt.

Michael Amotts Finger hört man auf "Ghenna" schnell, das ist kein Song, um die Kopfhörer zu testen, so affenartig legen die rostigen Gitarren los mit markerschütterndem Gekratze. Die restlichen zwei tollen Minuten braucht man, um sich davon zu erholen, die Band zieht jedoch durch bis zum herrlichen Cavalera-Trademark-Links-Rechts-Stereo-"Ugha" zum Schluss. "Black Hole Scum" gönnt nach dieser wirklich anstrengenden Nummer knapp 30 Sekunden Pause, bis der Frontsänger die Gitarren mit einer solchen hasserfüllten Verve anspeit, dass sie eifrig Riffs legen.

An den alten Soulfly-Sound erinnern im Vergleich zum Beginn des Albums nicht mal mehr die Tribal-Percussions; dass sich eine Band bzw. Max nach einer so langen Karriere zurückentwickelt zum Sound der eigenen Frühzeit und den dann mindestens so kompetent und aggressiv auslegt wie vor etlichen Jahrzehnten, nötigt Respekt und Bewunderung ab. Den Rest des mit Abstand längsten Songs des Albums verbraucht ein Mahlstrom aus Cavalera-Schreien, jaulenden Gitarren und Zyons cymbalgetriebenem Spiel, dessen frische Intensität nur noch verwundert. Wären Chat Pile Thrash-Nerds, sie würden sich so anhören.

Leider fällt "Favela / Dystopia" ein wenig eindimensional aus. An dessen klassischem Aufbau erkennt man erst die Intuition der vorherigen Songs. Die Kombination aus den langgezogenen Hintergrundschreien und dem tief dräuenden, körperlich bedrohlichen Noise aus Bass und Gitarren zum Schluss hätte unendliches Potenzial, wird aber nicht ausbuchstabiert. "Always Was, Always Will Be..." folgt keinerlei bisheriger Logik. Ein schwierig in Worte zu fassender, skelettierter Bastard, stellenweise wie ein gutturales Instrumental, fast schon ein Publikumsanheizer zu Konzertbeginn, bis Max doch drüberbrüllt, aber recht losgelöst vom Rest der Truppe. Dann war er weg, als wäre nichts gewesen, um dann aber doch noch aufzutauchen und den Song zum vierten Mal auf links zu drehen. Entweder Filler-Quatsch oder Geniestreich, ich tendiere zur zweiten Option.

"Soulfly XIII" ist ein sanfter Kuss an die eigene Bandgeschichte samt wehmütiger nahöstlich anmutender Gitarrenklänge und Tribal-Percussions, selbst ein indigener Ruf darf mal vorbeiblöken. Bandhistorisch überaus sympathisch und nach "Always Was, Always Will Be..." im Tempo nicht deplatziert, aber halt doch seltsam entfernt vom Rest des Sounds. Macht doch noch drei oder vier davon mit mehr weltmusikalischem Einschlag, wer hindert euch daran – eben weil "Soulfly XIII" nicht wie eine Pflichtübung wirkt.

Der Titeltrack klingt zu Beginn mehr nach alten Soulfly als alle anderen Teile des Albums. Faszinierend, wie die enge Produktion mit ihren gewollten Imbalancen daraus einen metallischen Knüppler macht, man die fehlenden Basstiefen förmlich spürt. Die Band ist darauf ausgerichtet, das ist genau so gewollt und bei den indianisch anmutenden Hintergrundchören nimmt der Song kurz eine dermaßen exzellente Fahrt auf, die er dann durch ein wenig Handbremse kurz darauf verliert. "Chama" ist eine wundervolle Scheibe, die es sich leistet, links und rechts dutzende Ansätze und Ideen einfach liegenzulassen.

Trackliste

  1. 1. Indigenious Inquisition
  2. 2. Storm The Gates
  3. 3. Nihilist (feat. Todd Jones)
  4. 4. No Pain = No Power
  5. 5. Ghenna
  6. 6. Black Hole Scum
  7. 7. Favela / Dystopia
  8. 8. Always Was, Always Will Be...
  9. 9. Soulfly XIII
  10. 10. Chama

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3 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor einem Tag

    Ich mag ja seine kindliche-naive Begeisterung, alle 3-4 Jahre Alben zu veröffentlichen, die zwar in der Regel relativ gut sind - wie z.B. Totem und vermutlich dieses hier -, aber jedes eine umgekehrte Wiederholung des Vorvorgängers darbietet. Nichtsdestotrotz: irgendwie hat er bei mir ein Stein im Brett und wird somit auch dieses Mal selbstverständlich ausgecheckt.

  • Vor einem Tag

    Ostbayern erwähnen aber nicht Alex Pereira, welcher die Inspiration für den Albumtitel war?

  • Vor 16 Stunden

    ich habe nicht unweit von cham nahe an der tschechischen ersatzdienst geleistet. ca 30km umkreis zur grenze ist auf beiden seiten zombieapokalypse...übelste verwahrlosung, marode häuser, fertige leute... sobald man aber auf beiden ländern ins landesinnere kommt, sieht es besser aus.