laut.de-Kritik
In Hannover regiert das kontrollierte Chaos.
Review von Kai ButterweckBeim ersten oberflächlichen Betrachten schreckt der eingefleischte The Hirsch Effekt-Fan schon ein bisschen zusammen. Die Titel auf der Cover-Rückseite des neuen Studioalbums "Kollaps" klingen, als hätte man es mit der Vorstellung einer neuen Ikea-Schrankwand-Kollektion zu tun. Hinzu kommt, dass keiner der Songs die Sieben-Minuten-Marke überschreitet. Himmel, herrje, sind nun auch The Hirsch Effekt im Mainstream angekommen?
Den Liebhaber von Werken wie "Eskapist", "Holon: Agnosie" und "Holon: Anamnesis" packt die Nervosität. Schnell muss ein erster Durchlauf her. Die Ungewissheit ist ja kaum zu ertragen. Knapp fünfzig Minuten später atmet der Jünger durch. Die drei Hannoveraner Moritz Schmidt, Nils Wittrock und Ilja Lappin tanzen immer noch auf verrückten Sound-Hochzeiten, denen der Freund von gemäßigten Klangstrukturen lieber fern bleibt.
Unter den düsteren Wolken der Gesellschaftskritik setzt das Trio diesmal alles auf die Komprimierungskarte. In vier, fünf, manchmal auch sechs Minuten muss alles rein, das die Trademarks ausmacht.
Dank intelligenter Aufbauten, durchdachter Schemata und glasklarer, sich aber ständig verschiebender Soundschablonen sitzt der Fan bereits nach wenigen Minuten zufrieden und gesättigt vor den Boxen. Highlights gibt es jede Menge, beispielsweise das eröffnende Dynamikfeuerwerk "Kris".
Das wesentlich rauere und durchweg vertrackte "Noja" sorgt bei Freunden der härteren Gangart für genauso viel Begeisterung wie der durchgeknallte Crossover-Bulldozer "Deklaration". "Allmende" ist irre, schnell und hektisch. "Domstol" pendelt zwischen Laut und Leise, und "Torka" präsentiert sich als atmosphärisches Kraftpaket, das Vergleiche mit den Deftones und System Of A Down auf den Tisch bringt.
Apropos Vergleiche: Das gegen Ende noch einmal für Aufsehen sorgende "Bilen" hätte sich auch auf dem letzten Rammstein-Album gut gemacht. Hier beweisen The Hirsch Effekt, dass sie neben grenzenloser Experimentierfreudigkeit auch extrem viel Groove und Rhythmus haben. Auch unter dem Banner der Verdichtung sprengt die Band spielend leicht alle Genre-Ketten.
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