laut.de-Kritik
Lieber Sonntagsessen als Revolution.
Review von Michael SchuhIm Jahr 1964 mit der eigenen Beat-Band ein Debütalbum vorzulegen, bedeutete Fluch und Segen zugleich. Einerseits war der Sound im Königreich längst angesagt und schwappte unter dem British Invasion-Banner gerade nach Westen über den Atlantik. Sprich: Perfektes Timing. Doch dann gab es da eben noch diese andere Band, über die jeder sprach, die wie der ewige Klassenstreber immer und überall der Beste war und auch noch alle Mädchen abbekam. She loves you, yeah, yeah, yeah: The Beatles.
Aus heutiger Sicht können die Davies-Brüder Ray (Gesang, Gitarre) und Dave (Leadgitarre) sicher drüber lachen, wenn auch nicht gemeinsam natürlich, denn das zarte Band familiärer Zuneigung, falls es je existierte, wurde irgendwann vor Jahren einmal zertrennt. 1996 stand man zuletzt gemeinsam auf der Bühne. Immerhin denkt man heute meistens schon an dritter Stelle an die Kinks, wenn von den großen britischen Rockbands der 60er Jahre die Rede ist - nach den Beatles und den Stones. Aber immerhin vor den Yardbirds, den Hollies, Herman's Hermits und Chad & Jeremy.
Dafür gibt es haufenweise Gründe, denn Songwriter Ray Davies zeigte gleich als 20-Jähriger, was in ihm steckt: "You Really Got Me", einer der größten Hits des Jahrzehnts, ist im Herbst 1964 die erste UK-Nummer-Eins-Single der Gruppe. Fortan wird das Quartett, zu dem auch der 2010 verstorbene Bassist Peter Quaife und Drummer Mick Avory gehört, von den scheckbuchgläubigen Gurus der damaligen Labelbranche auf Monster-Tourneen geschickt: teilweise natürlich als Supportband der Beatles. Dort muss Davies auch von John Lennon den ein oder anderen gehässigen Kommentar ertragen. Knapp 50 Jahre vor Twitter wurden Rivalitäten noch auf offener Bühne ausgetragen.
Doch die Kinks strampeln sich schnell frei und liefern hochwertiges Chartsmaterial: "All Day And All Of The Night", "Set Me Free", "Sunny Afternoon", das unsterbliche "Waterloo Sunset" - Hits, Hits, Hits. "The Kinks Are The Village Green Preservation Society" ist 1968 das sechste Studioalbum der Gruppe in vier Jahren, woran man schon ablesen kann, wie viel Freizeit den Bandmitgliedern damals von den Managern eingeräumt wurde.
Folgerichtig war Songwriter Ray Davies nach dem Vorgänger-Album "Something Else" platt. Der nicht enden wollende Erfolgsdruck setzte ihm gehörig zu und die Tatsache, dass die Kinks aufgrund ihres Rufs als randalefreudige Trunkenbolde ein vierjähriges Tourverbot in den USA auferlegt bekamen (Dave Davies musste nach einem Angriff von Avery 1965 mit 16 Stichen genäht werden), dürfte auch nicht zu Champagnerstimmung im Hause Pye Records geführt haben. Immerhin hätten sie bis zum Ende des Einreiseverbots 1969 ihre besten Alben auf dem weltgrößten Musikmarkt präsentieren und zu den zwei genannten Rivalen aufschließen können.
Und es kommt noch schlimmer: Als "The Kinks Are The Village Green Preservation Society" im November 1968 endlich erscheint, übrigens am selben Tag wie das "White Album" der Beatles, fällt es beim Publikum komplett durch. Ray Davies nennt es später "den erfolgreichsten Flop aller Zeiten". Über die Gründe wurde seither viel spekuliert. Die Umsetzung eines Konzeptalbums kam zwar zur rechten Zeit, doch die Songs zelebrieren ein damals völlig unzeitgemäßes Pop-Understatement. Nirgends finden sich Feedbackorgien oder rebellische Attitüde, kein "Sympathy For The Devil", keine "Revolution No. 9". Stattdessen träumt sich der frischgebackene Vater Ray Davies in eine ländliche Idylle, in ein altes England, sein persönliches Albion. Pop-Preziosen in Nostalgie und Wemut statt aufständischer Rock'n'Roll.
"Preserving the old ways from being abused / Protecting the new ways for me and for you / What more can we do", singt Ray im Auftakt, einem mehrstimmigen Folksong, in dem er Dinge aufzählt, die es zu bewahren gilt. Seine ironischen Brechungen verhindern schon hier eine genaue Lesart seiner Intention: Unter anderem zählt er Porzellantassen, Fassbier, den Tudorstil, Dracula, Fu Manchu, Donald Duck und die Jungfräulichkeit auf. Der Sound ist aufs Wesentliche beschränkt und beinhaltet keinerlei hippieeske Soundspielereien.
Die Flower-Power-, LSD- & All-You-Need-Is-Love-Bewegung ging an der Band spurlos vorbei, wenn man Bassist Quaife Glauben schenkt: "Ich habe darüber gelacht. Das Ganze hat viele gute Typen zu Idioten gemacht. Statt den Geist zu erweitern hat LSD ihn scheinbar in kleine Schachteln eingesperrt und Menschen unglücklich gemacht. Ein Kinofilm, ein paar Bier und ne Kippe: Das ist einfach nicht zu toppen. Und bei den Kinks sind wir der Meinung, dass das Sonntagsessen die Verwirklichung des Himmels ist."
Das Auge für genuin britische Befindlichkeiten, das in Songs wie "Harry Rag" und "Afternoon Tea" schon auf dem Vorgänger "Something Else" in Erscheinung traten, wird hier weiter geschärft. In "Do You Remember Walter?" imaginiert Davies ein Treffen mit seinem alten Jugendfreund Walter, der sei sicher "fett und verheiratet und immer um halb acht im Bett".
In "Picture Book" hat Quaife einen seine vielen großen Auftritte: Der bassgetriebene Song ruft zumindest vom Tempo leichte Erinnerungen an die Garage Rock-Frühphase der Kinks hervor - "A scooby-dooby-doo!" Im abgehangen-bluesigen, fast schon Yardbirds-artigen "Last Of The Steam-Powered Trains" stilisiert Ray sich zum letzten seiner Art - eben wie die gute alte Dampfeisenbahn.
"Big Sky" ist wieder ein großer Kinks-Singalong, "Sitting By The Riverside" mit Schunkel-Akkordeon ein Vaudeville-Ausflug und "Village Green" mit Cembalo- und Oboentönen die Ode an die Countryside ("I miss the village green / And all the simple people / I miss the village green / The church, the clock, the steeple / I miss the morning dew, fresh air and Sunday school"). Von The Jam über Madness bis Blur (die Kinks hatten 1966 übrigens einen Song namens "A House In The Country") hörten hier sehr viele spätere Kultbands genau hin.
"Village Green" und "Starstruck" mit ihren vermeintlich federleichten, anschmiegsamen Melodien schlagen den Bogen zurück zu "Something Else" von 1967 (einige Songs entstanden zur selben Zeit), und in "Phenomenal Cat" bringt Ray es tatsächlich, einem dicken Kater ein Denkmal zu setzen ("He just lived to eat 'cause it kept him fat / And that's how he wanted to stay."). Was passiert, wenn man sich vor einem Auftritt betrinkt (und sich anschließend blamiert), schildert "All Of My Friends Were There", das britische Music Hall mit einem Walzer zusammenführt.
Ein ziemlich irrer Trip für eine Band, der man heute die Erfindung des Heavy Metal-Riffs zuschreibt ("You Really Got Me") und die von Bands wie Queens Of The Stone Age, Melvins, Noel Gallagher und den Pixies gecovert wird.
"The Kinks Are The Village Green Preservation Society" ist vielleicht nicht das Album, das einer Person, die keinen einzigen Kinks-Song kennt, die Faszination dieser Band erklärt. Aber versteht man die Beatles allein aufgrund von "Sgt. Pepper's? Zu komplex und vielschichtig klangen fast alle Kinks-Alben bis in die frühen 1970er Jahre.
Die Leistung des Albums fasste Pete Townshend relativ nüchtern zusammen - und natürlich nicht ohne einen Beatles-Querverweis zu bemühen: "Für mich ist 'Village Green' Rays Meisterwerk. Es ist sein Sgt. Pepper's und es machte ihn zum definitiven Pop-Dichterfürsten."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 4 Antworten
schon lange drauf gewartet...
was den dritten Platz im GB der 60er angeht, ist der aber umstritten, hätte da the who zuersts genannt..
Da steht übrigens noch ein Meilenstein aus (aber bitte nicht eine der Rockopern sondern die live at leeds...danke)
Fand übrigens auch die '86 think visual LP durchaus hörenswert.
bzgl. The Who: "Who's next" ist klasse und wäre auch ein verdienter Meilenstein.
Ok, kann man so sehen mit The Who. Hatte da jetzt nicht mehr nachgeschaut, wann genau die losgelegt haben. Ich hab die für mich immer eher als Band der späten 60er abgespeichert, zumal die großen Alben ja erst um 1970 rum kommen. Bin aber auch kein Who-Addict.
Für mich klar "Who's Next" oder "Live At Leeds".
die "Sings my Generation" von 1965 wäre am ehesten Meilenstein-würdig
Ja, The Who habe ich in dem Artikel auch vermisst. Immerhin wurde Pete Townshend noch erwähnt.
Ein scharfsinniger Beobachter war Ray Davies ja. Würde das Album heute aufgenommen, hieße der Schlusssong statt "People Take Pictures Of Each Other" wohl "People Take Pictures Of Themselves".
Absolut gerechtfertiger Meilenstein, mir persönlich gefällt allerdings Arthur besser.
Klasse! Mein liebstes von den Kinks. Musikalisch mag 'Arthur' interessanter und vielschichtiger sein, aber 'Village Green' ist einfach mal verdammt effizientes Songwriting mit 15 vielfältigen, brillant erzählten in Songs verpackten Geschichten als Resultat.
You Really Got Me ist der erste Riffrocker der Musikgeschichte der Erfolg hatte. Damit haben die Kinks eigentlich Hardrock, Heavy Metal und auch die Stones vorweggenommen.
Die Small Faces werden auch immer vergessen!