laut.de-Kritik
Mit Kriegsbemalung und nackter Haut gegen das Männer-Establishment.
Review von Michael SchuhSie waren die ersten und gröbsten Provokateure des Punk. Ihr legendäres Zeitungsbuchstabencover bediente sich der Symbolik von Erpresserschreiben. Ihr Bandname, eine bis dato unbotmäßige Grenzüberschreitung: The Sex Pistols. Eigentlich unmöglich, das zu toppen. Doch es gab ein Äquivalent: The Slits. Eine Band, die sich "die Schlitze" nennt, weil sie ausschließlich aus Frauen besteht. Das Cover, eine bis dato unbotmäßige Grenzüberschreitung: Es zeigt die Musikerinnen nackt, nur mit Lendenschurz bekleidet, und offenbar gerade einem Schlammbad entstiegen. Kriegsbemalung.
Ein Bild, das bewusst auf den Primitivismus rekurriert, was ja auch wunderbar zu der Vorliebe der Band für afrikanische Rhythmen passt. Vor allem bricht sich hier aber der den Punk-Anfängen immanente Gestus der totalen Anarchie Bahn. Frauen sollen für Kindererziehung und Männerbespaßung zuständig und im popkulturellen Rahmen gerade gut genug für einen Platz in der zweiten Reihe als Backgroundsängerin sein? Das "Cut"-Cover fordert das Gegenteil: Freie Selbstbestimmung. Und ist dabei Lichtjahre vom ästhetischen Kunstanspruch des nudistischen Roxy Music-Covers "Country Life" (1974) entfernt.
The Slits inszenieren sich - noch bevor man einen Ton ihrer Musik gehört hat - als Kollektiv, das auf der Suche ist nach einem ureigenen Platz im von Männern dominierten Musikgeschäft. Als Kämpferinnen gegen jedwede ihnen im von Männern dominierten Labelbetrieb aufoktroyierten Erwartungshaltungen an musizierende Frauen. Slits-Sängerin Ari Up (auf dem Cover links) trug sogar Dreadlocks, dabei war sie doch viel weißer als Bob Marley. Und außerdem eine Frau. "Sie wussten nicht, ob sie uns ficken oder töten sollen", fasst Slits-Gitarristin Viv Albertine in ihrer Autobiografie "A Typical Girl" die ihrer Band entgegen geschleuderte und heute kaum noch fassbare Verachtung prägnant zusammen. The Slits verhielten sich seltsam und sangen über seltsame Dinge wie weibliche Identitäten. Es war die andere, weniger bekannte "Anarchy In The U.K."
Und die Überschneidungen zu den Sex Pistols reißen nicht ab: Die in London aufgewachsene Ari Up ist die Stieftocher von Pistols-Sänger Johnny Lydon, den Aris Mutter Nora, Kind einer deutschen Zeitungsdynastie, nach zerbrochener Ehe mit dem unbekannten Schlagersänger Frank Forster ehelicht. Da Lydon 14 Jahre jünger ist als Nora, ist er Ari Up gerade mal sechs Jahre voraus. Zum Zeitpunkt der Slits-Gründung 1976 ist sie selbst erst 14 Jahre alt. Call it Punkrock.
Drei lange Jahre sollte es von da an noch dauern, bis das Debütalbum "Cut" erscheint. Aus heutiger Sicht ein Segen. Selbst als die Gruppe The Clash auf deren 1977er Tour supportet, beherrscht kaum jemand ein Instrument. Es geht nur darum, in Stein gemeißelte Frauenbilder mithilfe völlig enthemmter Bühnenshows zu zertrümmern, wozu etwa Urinieren auf offener Bühne hilfreich ist, während das Publikum einer ohrenbetäubenden Kakophonie ausgesetzt wird. Lemmy Kilmister, der ein paar Jahre später die Slits'sche Heavy Metal-Variante Girlschool unterstützt, ist einer der entsetzten Beobachter ("Furchtbar, die können echt gar nichts"), der die Erfahrung allerdings für sich nützt, indem er Drummerin Paloma "Palmolive" McLardy zur Fachkritik ins Séparée bittet.
Palmolive, die wie Albertine in der Slits-Vorgängerband Flowers Of Romance spielte (Lydon benennt 1981 ein PIL-Album nach ihnen), ist auf dem Cover schon nicht mehr zu sehen, da sie 1979 ersetzt werden muss. Die Slits haben mittlerweile eine musikalische Vision entwickelt, die mit Palmolives beschränkten Fähigkeiten nicht mehr umsetzbar ist: Rohen Punk-Sound mit Roots-Reggae-Rhythmen zu verbinden. Selbst der Radio-DJ John Peel spielte in seinen Sendungen zu dieser Zeit immer begeistert Punk- und Reggae-Singles im Wechsel, wieso also nicht beides fusionieren?
Mit Siouxsie & The Banshees-Drummer Budgie nimmt man sogar einen Mann in Kauf. Den erwähnten Peel trifft der Sound dann bis ins Mark: "Wenn ich eine Top 10 meiner Live-Sessions erstellen müsste, wären die beiden Slits-Shows dabei". Wer nur einige Namen von Künstlern kennt, die zwischen 1967 und 2004 eine John Peel Session spielen durften, erahnt die Größe dieses Kompliments.
Präzision am Schlagzeug, die kantige Gitarre von Viv Albertine, der stets hin- und her springende Bass von Tessa Pollitt sowie das Expertentum des Produzenten Dennis Bovell, einer Schlüsselfigur der britischen Reggae- und Dubszene, führen zu einem kruden Sound-Amalgam, dem es im Vergleich zu den verwandten Klängen des zeitgleich erschienenen Specials-Debüts deutlich an Eingängigkeit mangelt. "Instant Hit"? Sicher nicht. Im gleichnamigen Song versuchen sich Ari Up und Kolleginnen gar an einem Kanon.
"Wir wollten auf keinen Fall männliche Rhythmen spielen, so seltsam das klingen mag", erklärte Albertine einmal ihren Stil, der gleichzeitig verdeutlicht, warum die Slits nicht mit früheren Frauen-Inkarnationen wie den Runaways (mit Joan Jett) und erst recht nicht mit braven 60er-Girlgroups wie den Ronettes vergleichbar sind.
"He is a boy / He's very thin / Until tomorrow / Took heroin / Don't like himself very much / 'Cause he's set to set to self-destruct" lauten die ersten Töne des erwähnten, kanonartigen "Instant Hit", in dem Ari Up ihr ungewöhnlich hohes, heulendes Organ vorstellt. Im Text kritisiert sie die Heroin-Romantisierung von Clash-Gründungsmitglied Keith Levene (später PIL), später in "So Tough" nennt sie "John" (Lydon) und "Sid" (Vicious) sogar beim Namen. In "Spend, Spend, Spend" besingt sie eine Frau in ihrem natürlichen Habitat, dem Kaufhaus, wo sie sich nur ablenken muss, weil ihr Leben so unendlich trist ist.
"Shoplifting" geht einen Schritt weiter: Hier wird geklaut, um überhaupt noch irgend was zu spüren. Der junge Morrissey hat genau zugehört ("Shoplifters Of The World Unite"). "Ping Pong Affair" artikuliert dann das Unaussprechbare: Weibliche Selbstbefriedigung nach einer Trennung - Peaches in Reinform, wenn auch bei den Slits nur angedeutet ("Same old thing, yeah I know / Everybody does it").
Hat man sich einmal der Sperrigkeit hingegeben, ist auch die Musik umwerfend: Die Free Jazz-hafte Avantgarde im rasanten "So Tough", der ungeheuer schwere Dub-Bass in "Spend, Spend, Spend", und natürlich der, ja, eingängige New Wave des Album-Hits "Typical Girls", der Schmährede auf das gängige Frauenbild ("Don't create / Don't rebel / Have intuition / Can't decide"). Wie soll man auch Zeit für eine Revolution haben, während man Frauenmagazine liest?
Das Originalalbum endet zwar mit dem nervös zuckenden "Adventures Close To Home", längst ist auf den Re-Releases aber das fantastische Marvin Gaye-Cover "I Heard It Through The Grapevine" enthalten. Ari Ups deutscher Akzent kommt hier besonders schön zur Geltung, ihr unorthodoxer Vortrag fand - natürlich samt der wichtigen Inhalte - auch bei einer jungen Punk-Anhängerin im fernen Reykjavik Anklang.
2010 stirbt Ari Up. Im vergangenen Jahr scheitert eine Kickstarter-Kampagne für die Doku "Here To Be Heard: The Story Of The Slits" am Finanzierungsminimum. Von den "Cut"-Wiederveröffentlichungen der Jahre 1990, 2000 und 2015 fließen laut Viv Albertine keinerlei Tantiemen von Island Records an die Band. Und doch bleibt ihr Vermächtnis größer denn je. Zu den Bewunderern der Band zählt die komplette "Riot Grrrl"-Bewegung aus den frühen 90ern (Le Tigre, Bikini Kill) plus L7, Chicks On Speed, younameit. Lassen wir deshalb ausnahmsweise zum Schluss einen Mann die große Lobhudelei aussprechen: "Als ich begann, mich für Punkrock zu interessieren, öffneten mir The Clash und The Slits neue Horizonte. Durch sie habe ich erst erfahren, was Reggae ist. Beide standen immer hinter diesem Einfluss. Danach wollte ich mehr herausfinden." (Mike D.)
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare mit 2 Antworten
Stark.
Ich weiß, die haben für Punk genausoviel wie The Clash geleistet, aber bisher ist das Album an mir vorbeigegangen. Die Bildungslücke sollte ich unbedingt noch schließen.
Das Album erschien wohl genau auch auf meiner Grenze wo ich anfing Mucke zu entdecken. Wird nach geholt. Und Toni das Thema Schwiegermütter läßt uns wohl nicht in Ruhe heute.
Sind heute selber welche, aber wie ich in einer ARTE-Doku gesehen habe, sehr coole.
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
"Ein Bild, das bewusst auf den Primitivismus rekurriert, was ja auch wunderbar zu der Vorliebe der Band für afrikanische Rhythmen passt"