laut.de-Kritik
Ton, Takte, Senf.
Review von Maximilian SchäfferRio Reiser, gestorben 1996, unvergessen, sollte im September 2020 einen eigenen Platz bekommen. In Berlin-Kreuzberg beschloss man sich eines weiteren preußischen Prinzen zu entledigen und die Örtlichkeit stattdessen dem schwulen König von Deutschland zuzuschreiben. Die feierliche Umbenennung scheiterte am Virus und ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Zum Trost, und weil symbolische Akte zwar sehr schön sind, aber nur einmalig GEMA-verwertbar, gibt es mal wieder Coverversionen von Liedern des Meisters, erschienen in einem Album auf dem Kleinlabel Unter Schafen Records aus Köln, genannt "Wir müssen hier raus! – eine Hommage an Ton Steine Scherben und Rio Reiser".
Nicht nur namhafte Mittelmäßige der deutschen Pop-Landschaft wie Gisbert zu Knyphausen und Bosse sind auf dieser teilweise extra aufgenommenen Zusammenstellung vertreten, auch Qualitätssiegel wie Fehlfarben, Die Sterne, Slime oder gar Fettes Brot und Jan Delay schmücken das Albumcover. Patrick Richardt, Lina Maly oder eine Musikgruppe namens Erregung öffentlicher Erregung sind hingegen eher Unbekannte, die man als freundliche Empfehlungen der Herausgeber verstehen kann. Eine nicht uninteressante Mischung aus arriviert und engagiert versammelt sich hier.
Des Rios unnachahmliches Organ und träumerische Hausbesetzerlyrik in all seinen Facetten zu imitieren, versuchen seit jeher viele. Die lustigste Parodie schaffte einst ein Max Prosa, der sogar rauchte, Leinenhemden trug, aber bessere Zähne als sein Vorbild hatte. Auch ein Henning May bemüht sich seit nunmehr fast einer Dekade um schnoddrige Romantik, will traurig sein und hat keinen Grund, röhrt seltsam vor sich hin, landet stimmlich bei einem inkontinenten Westernhagen, macht damit ordentlich Kasse.
Damit auch ungeschulte Ohren nochmal die Referenz zu Gehör bekommen, beginnt "Wir müssen hier raus!" mit dem gleichnamigen Lied von Ton Steine Scherben im Original. Dass die gleiche Aufnahme wie die auf "Keine Macht für Niemand" tönt, ist ein glücklicher Umstand für Fans, die sich zum tausendsten Mal vergewissern wollen, dass sie in der Bundesrepublik Deutschland "im Zuchthaus leben".
Die Sterne beginnen den Reigen mit "Wenn die Nacht am tiefsten ..." und tun dabei das Erwartbare. Auch, dass Frank Spilker die Bridge mit Autotune singt, lenkt nicht vom gewohnten Diskurspop-Sound ab. Neufundland aus Köln haben einen unerträglichen Sänger, achteln verschiedene Instrumente durch, machen "Halt dich an deiner Liebe fest" zu einem launigen 00er-Jahre-Radiosong. Bosse fragen "Warum geht es mir so dreckig" und beantworten die Frage direkt. Als viertes darf Gisbert Zu Knyphausen rumdudeln, sucht sich mit "Straße" wenigstens einen hübschen, seltenen Song von Rios letztem Album "Himmel und Hölle" aus. Erregung Öffentlicher Erregung dilettieren 00er-Jahre-Indie-Punk über "Jenseits von Eden". Schrottgrenze fällt nichts zu "Menschenfresser" ein, genau wie Rocko Schamoni zu "Morgenlicht".
Jan Delays Version von "Für immer und dich" ist von 2006, heute kalter Kaffee, aber immer noch eine meisterhafte Aufnahme, die kurz ins Licht rückt, wie teure Popmusik klingt. Man kann sie vierzehn Jahre später immer noch problemlos über alle Kanäle jagen. Folgerichtig kommen danach die Kollegen von Fettes Brot mit ihrer charakteristischen 2010er-Partyversion von "Ich bin müde", die weniger gut gealtert ist als Delays charmantes Genöle. Auch die 2011er-Version von "S.N.A.F.T." der Beatsteaks klingt heute etwas traurig nach "Rock im Park".
Die Höchste Eisenbahn aus Berlin machen aus "Schritt für Schritt ins Paradies" einen lauwarmen Track für die nächste Mobilfunkwerbung – der ist auf Valium wenigstens tanzbar! Ganz im Gegensatz zu KENs unhörbarer Proberaumversion von "Wir müssen hier raus!" und Patrick Richards gesichtslosem Armutszeugnis von "Der Traum ist aus". Das Bierbeben hätten ihre alte, lustige Coverversion "Wenn die Nacht am tiefsten ist ist die Nacht am tiefsten" wieder veröffentlichen sollen, dudeln stattdessen austauschbar über "Mein Name ist Mensch".
Dazwischen taucht noch eine Liveversion von Wir sind Helden auf, die vor ein paar tausend Menschen "Halt dich an deiner Liebe fest" singen, was ergreifender ist als jedes von Judith Holofernes in ihrer neuen deutschen Harmlosigkeit geschriebene Lied. Fehlfarben machen aus "Nicht nochmal" ordentlichen Altherrenpogo, Slime aus "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" eine pensionierte Schlachtrufe-BRD-Version. Am meisten strengen sich die Punkerinnen von Östro 430 an, die den schrecklichen Annette-Humpe-Schwachsinn "Alles Lüge" bewusst noch dämlicher machen und damit nicht unerfolgreich sind. "Zauberland", interpretiert von Lina Maly, ist für die Tonne.
Zum Schluss kommt nochmal Herr Möbius himself, der alleine am Klavier "Der Krieg" spielt und jedes Wort meint, das er singt. Er zeigt allen Nachkommen, wie das geht und warum er es nicht nötig hat, den Heinrichplatz aufgrund seiner "Diversität" (er liebte stets unglücklich deutlich jüngere Männer) zu bekommen. Fertig. Der Rezensent hat nun seine Pflicht getan und wirklich jedes Lied auf der Platte kommentiert. Dieser unsinnige Ansatz entspricht dem der Compilation, zum Werk von Rio Reiser nichts hinzuzufügen außer mittelscharfen Senf.
9 Kommentare mit 23 Antworten
Außer Slime alles Schmutz.
Ich wiederhole meine Forderung eines Coververbots von Scherben oder Reiser Songs.
Ich schließe mich der Forderung vollumfänglich an.
Version von Slime ist natürlich absolut in Ordnung.
Wow ich glaube, dass ist das erste Mal, dass mir jemand auf Laut.de zustimmt. Ich mach mir jetzt ein Kreuzchen in den Kalender
die versionen von landser und totenmond sind noch sehr gelungen. so für nachspielversionen
Torque...
Dann doch lieber Versionen von Daily Terror!
Landser hat Scherben gecovert? Oh man, ist sowas bei denen nicht geächtet. Einen Song von den Feinden zu Covern?
@cloes:
Was spricht dagegen? Jeder halbwegs normale Musikjunkie abseits des DSDS-Sumpfs und jenseits des Alters, in denen man Boy- bzw. Girlgroups hörig ist, freut sich doch, wenn jemand ein Lied nicht 1:1 nachträllert, sondern ihm neue Facetten abringt. Und wenn das bedeutet, daß man Rio Reiser so interpretiert, daß man dazu strammstehen und mit den überglücklichen Tränen des Nationalstolzes "Dieses Land ist es nicht!" gröhlen kann, ... Wahrscheinlich hätten sie ihn in anderen Zeiten zu exakt diesen Klängen zu einer angenehmen Dusche im Beisein von anderen Jungs eingeladen.
Alles eine Frage der Auslegung, da kann man auch andere tendenziell bis aber so was von deutlich linke Interpreten fragen. DKP-Mitglied Hannes Wader aus braunen Kehlen? Kein Problem. *summ* "Ja, auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun ..."
Solange keine Veränderung am Liedgut selbst vorgenommen wird, können auch die Urheber nichts machen. Aber das kriegt man hin, indem man beim Singen einen Tick anders betont. Oder auf der Bühne den Scheitel umfaltet.
Gruß
Skywise
Ich glaube, Torque hat dies etwas anders gemeint...
@ cloes:
Menschenfresser gecovert von HASS geht absolut iO
Ha, ha. Selten so ein beschissenes und unsachliches Review gelesen. Geschrieben von einem arroganten Schnösel...
Werd mal konkret statt beleidigend. Was gefällt dir denn an der Review nicht - wo ist der Rezendent unsachlich? Oder vielleicht: was spricht denn für das Album? Aber bitte nur Sachargumente. Danke.
Ich frage mich echt, wie man den den Großteil der dargebrachten Lieder so konsistent fehlinterpretieren kann.
Insgesamt wirkt das vorliegende Werk mit wenigen Ausnahmen so, als sei es für "Sing meinen Song" aufgenommen worden.
Klapp, klapp, klapp. Ganz toll.
Es ist einfach nur unnötig. Und natürlich auch schlecht.
Ich bin Müde von Fettes Brot ist von 2003 nicht von 2010.
und es ist gut gealtert!
Die Review ist ein wenig "zu spitz", aber Hand-aufs-Herz, die Kompilation ist leider wirklich enttäuschend!
Leider passende Review. Tatsächlich finde ich die Version des Titellieds von Ken allerdings ziemlich rotzig rau auf den Punkt und frage mich anschließend warum Aydo Abay eigentlich nicht öfter auf Deutsch singt? Der Rest ist meistens kalter Kaffee, entweder zuviel gewollt oder zuwenig draus gemacht. Manchmal beides.