laut.de-Kritik

Sympathischer Bruch mit vielen Pop-Konventionen.

Review von

"I wake up with the smell of you in my hair / it was like a familiar dream we shared". Der Songeinstieg zoomt auf den kleinen Moment im Übergang zwischen Schlafen und Wachen, den Mini-Punkt, an dem 'aminerge Neurotransmitter' unser Gehirn fluten und wir uns an Träume mehr oder weniger erinnern. Die richtige Kulisse für "Nachtlieder", "Nightsongs".

Yael Naim kann sich bisher auf einen Hit berufen, "New Soul", der dank eines Produkt-Werbespots die Welt eroberte. Dabei stammt die Sängerin aus Frankreich, somit einem Land, das nur selten Chartbreaker in die Welt aussendet. Statt das französische Revier des Chanson-Pop ins Visier zu nehmen und an den Erfolg jenes groovenden "New Soul" anzuknüpfen, macht Yael hier etwas reichlich anderes: eine sehr persönliche Platte mit experimentellen Synthesizer-Passagen, vor autobiographischem Hintergrund.

Das Piano dominiert etliche Tracks, zum Beispiel "Des Trous", zu deutsch "Löcher". 'Songwriter-Ballade' charakterisiert die "Nightsongs" am treffendsten. Aber Echo-Effekte auf "Watching You" und die Background-Chöre in "She", "Back" und "My Sweetheart" strahlen derweil die sakrale Stimmung von Gospel-R'n'B aus. Mit dem Spätwerk Leonard Cohens, seinen Keyboard-Arrangements und seiner Zusammenarbeit mit Soul-Folk-Expertin Sharon Robinson haben die Song-Outfits einige Parallelen. Das Musikalische bleibt nicht die einzige Gemeinsamkeit mit Cohen.

Yael gestaltet ihre Texte überaus existentiell, existentialistisch. Der Tod ihres Vaters beschäftigt sie. Das Thema, das die Entstehung der Platte begleitete, muss man sich zwar nicht zu Herzen nehmen; da wahrt die Sängerin eine gesunde Distanz zum Hörer. Aber sie berührt, wenn man sich darauf einlässt.

Der Song "Daddy" eröffnet in medias res das Album. In dieser Ballade setzt sich die Künstlerin mit den Gefühlen des Verlusts und der entsprechenden Ohnmacht und Vergänglichkeit auseinander. Dafür findet sie eine elegante, luftige Form und verzichtet auf Plattitüden und Pathos.

Dass die Sängerin nicht darum herum redet, dass sie ihren Vater vermisst, und dafür nur sehr wenige Worte braucht, ist ausgesprochen sympathisch und mutig. Nach der Zeile "Daddy died" hält sich Yael mit Text zurück, summt nur noch, verstummt dann, deutet eine Schweigeminute an; der Song hört kurz auf, bevor Yael es sich dann doch anders zu überlegen scheint und sphärische Töne à la Julia Holter übernehmen. Weder manieriert noch konturenlos wirken die Instrumental-Parts und grenzen sich so zu Holters Klang-Quark ab.

Anders als etwa Alice Phoebe Lou ihre Hörer recht stark involviert und in ihre Stories hineinzieht, treibt einen Yael Naim nicht übertrieben tief in die emotionalen Untiefen. Sie lässt Wahlmöglichkeiten offen. Ihre Stimmungen, wie sie diese spürt und weitergibt, regen an - sie verpflichten nicht. Nur weil Yael über Trauer singt, muss man sich nicht auch traurig fühlen. Auch wenn es sehr introspektiv und ruhig im Tempo wird, muss sich keiner von der leicht schläfrigen (somit fachgerechten) Gestaltung der "Nightsongs" anstecken lassen. Der meist pulsierende Flow der Songs lässt das Album sogar quirlig erscheinen.

Formal hält die maghrebinische Israeli-Französin Yael es weltoffen und liberal. Zwar macht sie keine 'Worldmusic', pflegt aber den weltmusikalischen Bruch mit dem Konformen, Glattgebügelten. Sie setzt den längsten Song als Opener ein. Klassische Pop-Regeln einer Albumgestaltung befolgt sie kaum, Tabuthemen kennt sie keine, simpel beginnende Melodien biegt sie in neue Kurven um. Intuition und Eigensinn regieren über Logik und Marketing. Diese Platte plädiert unterschwellig fürs Bauchgefühl und für Aufrichtigkeit, sich selbst gegenüber. Diese CD sucht nach Antworten: "Seasons will come and go / Waiting for answers to go" heißt es in "Watching You".

Zu ihren klugen Selbstfindungs-Texten entfaltet Yael Naim ein Panoptikum des Wohlklangs. Doch wie vertont man so etwas Abstraktes wie den Umgang mit der Endlichkeit des Lebens? "God, help me not to fall / how come that we've grown so tall?" heißt es in "My Sweetheart", einem Track von Leonard Cohen'scher Metaphorik und philosophischer Grundsätzlichkeit, und hier überträgt sich die Angst vor dem Fallen plastisch in die Akkordverläufe. Allgemein schlagen die Kadenzen in den "Nightsongs" mal den Bogen über einen Zwischenakkord und strotzen mit aller Kraft der Versuchung, vorhersehbar zu werden. Gibt es Surreales aus Träumen zu vertonen, übernehmen Synthie-Wabbeltöne diesen Part. Sie mischen sich mit klareren, kantigeren Klavierklängen, immer wenn die wache Erkenntnis obsiegt. Alles klingt ästhetisch, nichts dissonant - aber auch nichts süßlich.

Die Melodien dürfen mal kurz eingängig sein, bald aber entwickeln sie sich 'molliger' und introvertierter, und meist überraschen die Akkordfolgen. Diese Harmonien sind 'special', so special wie auf "Abbey Road" von den Beatles. "Something" oder "Because" nachzuspielen, ist verdammt schwierig wegen bestimmter Dominantsept-Spezial-Akkorde mit verminderten Quinten und Septimen oder gar Dreiklängen ohne Fachbezeichnung in der Musikwelt wie dem C maj 7-Akkord. Fragt man sich, ob nicht irgendwann alle Tonleitern und Kadenzen durchgenudelt sein müssten, beantworten die "Nightsongs" das mit 'nein'. Yael wagt sich auf Wege, die noch nicht oft betreten wurden.

Hinzu kommt die Umsetzung, dank der phänomenalen Stimme der Künstlerin. Hoch intoniert sie, sogar sehr hoch, glasklar, aber nie zerbrechlich. Schwierige Tonsprünge nach oben durchschifft sie sicher, sogar meisterlich, etwa im Song "Back".

Sich mit der Rolle der ätherischen Elfe zu begnügen, dieses Singer/Songwriter-Motiv hat hier ausgedient. Das Nahe, Trost Zusprechende in "Familiar" klingt gar nicht so, als ob sie diejenige wäre, die um eine starke Schulter zum Anlehnen bittet - stimmlich eher so, als ob sie selbst uns diese anbietet, alles unter Kontrolle hat und vertraulich ihre Liebe teilt.

Mit ihren Themen, Stimmungen, Texten und Tönen richtet sich die kreative Künstlerin an Fans und Sympathisanten von Hope Sandoval, Natalie Merchant, Sophie Hunger, Joan As Police Woman, und eben von Cohen, auch von David Sylvian. Allen Genre-Fremden bieten sich die "Nightsongs" als Einstieg in diese subjektive, persönliche Welt der Singer/Songwriter-Selbstreflexion an. Yael Naim hat ein Aushängeschild für ihr Genre geschaffen.

Trackliste

  1. 1. Daddy
  2. 2. She
  3. 3. How Will I Know
  4. 4. The Sun
  5. 5. Shine
  6. 6. Miettes
  7. 7. Back
  8. 8. My Sweetheart
  9. 9. Familiar
  10. 10. Des Trous
  11. 11. Watching You
  12. 12. A Bit Of

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1 Kommentar mit 13 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Bei laut.de werden Künstlerinnen dieser Art gerne mit einem zusätzlichen Wokenesspunkt beschenkt, den man mental natürlich immer abziehen muß. 4/5 sind ziemlich gerechtfertigt. Auch wenn ich nicht glaube, daß man sich in einem halben Jahr noch an die Platte erinnern wird. Gerade gefällts ganz gut.

    • Vor 4 Jahren

      Vorgängerplatte 3/5 - Leser 4/5, Platte davor: 4/5 - Leser 5/5. Das zur Wokenesspunkttheorie.

    • Vor 4 Jahren

      Ordentlich ermittelt, HiPhi! Das kommt davon, wenn das mimimimi das Denken bestimmt.

    • Vor 4 Jahren

      Und das soll uns jetzt was genau zu meiner süffisanten These sagen, das jeder Redakteur noch einen Wokenesspunkt zu seiner Wertung hinzuaddiert?

    • Vor 4 Jahren

      Solltest vielleicht auch mal kennzeichnen, dass es eine These ist. Vielleicht ein "ich denke, dass" voranstellen. Kannst ja mal begründen, warum das laut.de deiner Ansicht nach macht. Der Einwand von HiPhi ist schon nicht ganz verkehrt, er besagt nämlich, dass Redakteure in der Regel einen Punkt weniger geben als das Mittel der Leserschaft und dies spricht schon dagegen, dass die Künstlerinnen einen Bonuspunkt bekommen, auch wenn das theoretisch möglich ist.

    • Vor 4 Jahren

      Sorry, out of role posting.

    • Vor 4 Jahren

      Jedem Kommentar ein "Ich glaube", "ich denke", "Folgendes ist nicht ganz ernst gemeint:" usw. vorzusetzen ist etwas doppelt gemoppelt, nicht wahr? 123% aller Kommentare im Internet sind bloße Meinungen.

      Wenn jemand über etwas Faktisches, Empirisches redet, macht er das in aller Regel auch für die letzten Leuchten offensichtlich.

    • Vor 4 Jahren

      Kann ja sein. Aber mal die Gegenfrage, was bringt es dir laut.de mit deinen Thesen zuzupflastern? Was veranlasst dich zu der These oben?

    • Vor 4 Jahren

      Weil mir sporadisch aufgefallen ist, daß hier viele Künstlerinnen top besprochen werden, die schnarchlangweilige Musik machen, an die man sich nach spätestens zwei Wochen kaum mehr erinnert. Und Wokeness ein kaum bestreitbares Kriterium auf laut.de ist.

      Zur Sicherheit: Das ist ne flüchtige Beobachtung, die völlig falsch sein kann. Und mir isses auch nicht wahnsinnig wichtig. Es soll ja jeder so kluge oder so dumme Maßstäbe für die Bewertung von Kultur haben, wie er möchte.

    • Vor 4 Jahren

      Aber noch mal deutlicher zur Frage: Nix. Es "bringt" niemandem was, positive, negative oder neutrale Kommentare im Netz zu posten. Ist nur soziales Geräusch.

    • Vor 4 Jahren

      "an die man sich nach spätestens zwei Wochen kaum mehr erinnert."

      Und das weißt du woher?

    • Vor 4 Jahren

      Es gibt eine Bundesstelle für "Musik, an die sich nach spätestens 2 Wochen keiner mehr erinnert".
      Soweit ich weiß, wird sie von Anja Karliczek geleitet und von Peter Altmaier vertreten.

      Ich nehme an, dass er die Informationen offiziell beantragt und erhalten hat.

    • Vor 4 Jahren

      @Schwinger: Rein statistisch müßte es zehntausende Musikerinnen geben, die man innerhalb von weniger als zwei Wochen vergessen hat. Zur Sicherheit sei aber noch mal erwähnt, daß ich damit nicht unbedingt Yael Naim meine.