laut.de-Kritik
Der Kendrick Lamar des Country erobert das Genre zurück.
Review von Yannik GölzStellt euch mal vor: Aus dem Nichts kommt ein neuer Schlager-Artist. Er oder sie orientiert sich vor allem an den richtigen OGs, an Hildegard Knef, France Gall oder dem frühen Roland Kaiser. Die Musik ist organisch, liebevoll, hinten und vorne verstecken sich kleine Instrumentalpassagen und nerdige Musikreferenzen. Trotz jeder Verweigerung des Schlagerbetriebs und keinem großen Label gehen die Low-Budget-Songs und Videos viral, bis schließlich der große Moment kommt und eine völlig neue Vision von Schlager auf Platz eins der Albumcharts und Singlecharts gleichzeitig einschlägt und alle auf dem alten Betrieb wie ziemlich unkreative Pappnasen aussehen lässt. Genau das passiert gerade in den USA. Nur eben nicht mit Schlager. Es ist Country, der gerade seinen Nirvana-Moment hat.
Der Grund hierfür ist ein junger Mann namens Zach Bryan, der seit dem Ende seiner zeit in der Armee in die lokale Musikszene Alabamas zurückgekehrt ist und sich dort trotz seines Talents erstmal ein Blacklisting in der großen Industrie Nashvilles eingefahren hat. Und weil die Stadt in Tennessee so ziemlich das Monopol für das Genre besitzt, geht der sonstige Weg für Country-Stars für ihn nicht klar. Er droppt ein paar Alben, und man merkt, dass da etwas ist. Virale Momente türmen sich, aber erst 2022 gibt es den Moment, an dem er nicht mehr zu ignorieren ist.
"Something In The Orange" war ein Indie-Country-Megahit, der mehr wie ein Trailer als wie eine Novelty gewirkt hat. Es war, als würde ganz Amerika gefragt werden, ob sie eigentlich noch Bock auf die ganze Country-Chause haben. Die großen Genre-Hits des Jahres hießen "Meant To Be" von Florida Georgia Line, "Body Like A Backroad" von Sam Hunt oder "Fancy Like" von Walker Heyes: Es waren plastikartige Quasi-Popsongs mit Trapbeats und affigen Performern. Country war in einem Republikaner-Bible Belt-Sumpf, Kritiker*innen haben es schon kaum noch mit dem Stock angefasst.
Aber dabei ist der Bedarf danach so groß wie ewig nicht: Morgan Wallen ist im Moment wohl der größte Performer Amerikas nach Taylor Swift, mehrere Alt-Right-Grifter haben im vergangenen Monat mit ... 'Protestsongs' Nummer Eins-Debüts hingelegt. Country übernimmt gerade Hip Hop als das meist nachgefragte Genre der USA – und all das ist wichtiger Kontext für dieses Album, denn, salopp gesagt: Country needs a classic. Ein Album, das man vorzeigen kann, das an das künsterlische Potential des Genres erinnert. Und wenn ich Wallen vor ein paar Monaten Countrys Drake genannt habe, dann herzlichen Glückwunsch, das hier ist sein Kendrick.
Das Self-Titled von Zach Bryan kann man auf zwei Arten sehen: Als ein gigantisches Fuck-You an das Country-Establishment und eine Rückkehr von tausend Sounds, die zu Unrecht daraus verdrängt wurden. Americana-Rock, Outlaw Country, der Blues. Aber gleichzeitig ist die Kunst daran, dass man es als diesen rechtschaffenden Befreiungsschlag zwar betrachten könnte, genau wie Kurt Cobain zu seiner Zeit den satten, alternden Hair Metal getötet hat. Würde man aber all diesen Kontext nicht kennen, selbst wenn man noch nie Country gehört hätte, man wüsste trotzdem, dass man es hier mit einem unglaublichen Album zu tun hat.
"Zach Bryan" fühlt sich an wie alte Freunde in irgendeinem malerischen Kaff, irgendwo im Midwesten der USA, an der Grenze zum Wald oder zur Prärie, ein Lagerfeuer, eine Band, ein Sonnenuntergang. Was als erstes auffällt ist die wirklich aggressiv organische Produktion dieses Albums, von vorn bis hinten gespickt mit liebevollen kleinen musikalischen Einlagen. Die Bässe klingen warm und lebendig, die Grooves schalten auch mal von einem stillen, understateten Verse in einen fulminanten und melodisch strahlenden Refrain.
Man schaue sich nur mal "East Side Of Sorrow" an, wo der Song wirklich brillant aufbaut, der Refrain nimmt schon so viel mit, dann kommt noch diese euphorische, majestätische Trompete für die Afterhook dazu. "Holy Roller" endet mit einem rhythmischen, tanzbaren Banjo-Solo. "Jake's Piano – Long Island" ist ein Doppelsong, der jedem Indiehead Ehrfurcht lehren könnte, mit seinem ambitionierten, komplexen Songwriting-Aufbau.
Aber dieses Organische ist nicht nur Fassade, um einen Gegenpol zu schaffen. Zach Bryan gibt den schweigsamen, lyrischen Outback-Songwritier mit Bravour. Ob es eine stürmische kleine Nummer über Hook-Ups und Verschwiegenheit ist wie "Fears And Friday's" oder ein einläutendes Gedicht: Er schafft die Balance zwischen lyrischen Momentaufnahmen und gesprochener Sprache, nichts klingt zu salopp, aber auch nichts klingt tryhard. Auf eine sympathische Art und Weise klingt er stets ein bisschen introvertierter, als man es vom Genre erwarten würde. Und seine Art und seine Beobachtungsgabe holen dann Country-Tropes zurück, die Jahre im fest im Klischee vereist waren. Wenn er seiner Angebeteten sagt, ihre grün-braunen Augen würden ihn an eine Berglandschaft erinnern, dann meint er das so.
Ein großes Thema auf diesem Album ist die Erinnerung. Nostalgisch könnte man das nennen, wenn er Jugendsünden und Kleinstadt-Romantik rezitiert, aber viele dieser harmlosen Episoden sind von ein bisschen mehr Lebenserfahrung gebeutelt. Er singt über den Tod seiner Mutter, steht einem Freund bei, der seinen Vater verloren hat, denkt an alte Weggefährten, die nicht mehr da sind und fühlt sich fremd an Orten, die ihm am nächsten sein sollten.
All das kulminiert in der großen Single, die es zum Nummer-Eins-Hit geschafft hat. "I Remember Everything" kollaboriert mit Kacey Musgraves für eine Aufbereitung gemeinsamer Gedanken zweier entfremdeter Liebender. Die Erinnerungen sind ambivalent, aber warm. Und wie viele große Popsongs könnte man ihn auch in Bezug auf die Beziehung Amerikas zum Country lesen. Da war mal etwas, das über "Body Like A Backroad" hinausging. Es ist eingeschlafen, aber mit diesem Album könnte die Flamme wieder auflodern.
4 Kommentare
Cool, hätt nicht gerechnet, dass über Zach Bryan auch noch was kommt. Kann mich der Rezi zum großen Teil anschließen, war wirklich ein solides Album, auch wenn die Produktion an einigen Stellen zu roh aufschlägt, kann man Zach Bryan nicht absprechen, jedes Wort auch genauso zu meinen, wie er es besingt. Ein paar Highlights, sehr viele gute Tracks.
Hier mehr: https://youtu.be/UHXaC2MoC_8?si=Nzv7UHZi4P…
Platte des Jahres. 5/5
Das ist mit Abstand das schönste Folk-Albung, dass ich seit langem hören durfte. Tolle Stimme, tolle Songs und absolut fantastisch arrangiert.
Und das eine Platte, die derartig unterproduziert ist, so eine Popilarität erlangt, ist echt ein kleines Wunder. I´m in love.
fand ich beim Hören strunzlangweilig, aber jedem das Seine