laut.de-Kritik

Die Bibliothek von Alexandria im Späti.

Review von

"Würden Sie alles verstehen, das ich sage, wären Sie ich." Sofern Miles Davis mit diesem Ausspruch richtig lag, können wir davon ausgehen, dass mich auch über zwei Dekaden Hardcore-Fangirlship noch nicht in einen 1,93 Meter großen, skatenden, sprühenden, chronisch immer mindestens eine Etage zu tief unter dem Radar entlangschwirrenden Untergrund-Rap-Gott verwandelt habe, Mist. "Black Hole Superette" schmiert es mir wieder fingerdick aufs Brot: Nach zwanzig Jahren und locker zehn Alben versteh' ich von Aesop Rocks Lyrics in aller (von den erforderlichen Ausnahmen bestätigter) Regel noch immer bestenfalls Bruchteile.

An seiner Artikulation liegt es nicht, mir fällt eigentlich kaum ein*e MC mit klarerer Aussprache ein. Mangelhafte Sprachkenntnisse meinerseits können auch nicht die Ursache für Verständnisschwierigkeiten sein, zumindest nicht ganz allein: Ich habe Native Speaker gefragt, und die stehen meist ähnlich ratlos vor den lyrischen Wolkenbrüchen, die Mr. Ian Bavitz da ein ums andere Mal über seiner Hörer*innenschaft niederregnen lässt. Beeindruckend dumm also, dass ich mich trotzdem jedes Mal aufs Neue in dem aussichtslosen Versuch verzettele, kapieren zu wollen, was zur Hölle in diesen Texten eigentlich genau vor sich geht.

Dabei könnten wir inzwischen alle wissen: Um ein Aesop Rock-Album genießen zu können, ist überhaupt nicht nötig, jede seiner Zeilen minutiös nachvollziehen zu können. Für das assoziative Wunderland in seinem Kopf besitzt, wenn überhaupt jemand, allenfalls er selbst eine Karte. Allen anderen bleibt nur, sich auf den Wahnsinn einzulassen und wenigstens ein Stück weit den weißen Kaninchen hinterherzurennen, die dieser Mann dutzendweise aus den Ärmeln schüttelt und in die Gänge seines Gedankenlabyrinths entfleuchen lässt. Diesmal zusammen mit jeder Menge anderem Viechzeug, darunter diverse Hunden und Katzen, ein frischer Schwarm Geflügel, eine in ein Mini-Aquarium eingeschleppte Schneckenpopulation und ein Hamster namens Elizabeth. Noch Fragen?

Ja, jede Menge. Nicht zur Debatte steht jedoch, ob es sich wohl lohnt, der einleitenden Aufforderung Folge zu leisten. Per um einen Stein gewickelten Zettel fliegt sie im eröffnenden "Secret Knock" durch die Fensterscheibe: "Walk with me", heißt es da, und gleich darauf: "I don't go on nobody's signal, I don't signal, I just go." Stimmt. Niemand, wirklich niemand auf diesem Planeten klingt wie Aesop Rock. Die Kombination aus seiner Stimmfarbe und seiner Delivery: absolut unique. Dass er, egal, ob er von einem entfallenen Nachnamen ("John Something") erzählt, oder von einem unvorsichtigerweise verliehenen Jeep ("Costco"), von schwarzen Pflaumen oder roten Telefonen: Aesop Rock flowt immer gleich.

Dass es trotzdem kein Stück langweilig wird, sich diesen einen Flow Track um Track, Album um Album, wieder und wieder anzuhören, liegt zum einen an der Interpretationsoffenheit der oft kryptischen Texte. Bei jedem Durchlauf scheinen sie andere Abzweigungen zu nehmen, sie führen überall und nirgends hin, jedoch selten zweimal an denselben Ort. Die Flut an Bezugnahmen, Querverweisen, Zitaten und Anspielungen ermöglicht ganzjährige Ostereier-Suchen auf ganz unterschiedlichen Leveln der Nerdiness. Wer will, kann dabei Literatur-Empfehlungen von Dr. Seuss bis Stephen King, TV-Tipps von Quizshows bis Dokus übers Boxen und Musik von Nas und dem Wu bis zu Etta James und Sade mitnehmen und sich unterwegs noch einen "Little Boxes"-Ohrwurm einpflanzen, ein Lied, an das ich bis zu "Checkers" seit locker 35 Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Aesop Rock hat wahrlich jedes Recht der Welt, sich selbst mit einer sagenumwobenen Bibliothek zu vergleichen: "I'm all of Alexandria's information in aggregate." Wer vielseitig interessiert ist, hat eben einfach die breitere Themenpalette, und wer ungewöhnlichere und zudem schlicht mehr Wörter benutzt, tut sich ganz offenbar leichter, mit weniger abgegriffenen Metaphern frischere Bilder zu malen. Dass die alle am Ende dieselbe Handschrift tragen: geschenkt. Im Gegensatz zu den beiden Vorgängern, die jeweils etwas strikter einem Konzept folgten, gleicht "Black Hole Superette" tatsächlich eher dem Kiosk auf dem Cover. Im Umfeld Gemischtwarenladen legt Aesop Rock viel von seiner Verkopftheit ab, was das Ergebnis spontaner wirken lässt, weniger konstruiert und damit mitfühl-barer.

Für Abwechslung sorgen zudem die Gäste: Homeboy Sandman reicht in "Checkers" seine Einkaufsliste für den Gang zum Späti rein (Einmal jedes Produkt mit einem Warnhinweis drauf, bitte, danke, weitermachen!) und kehrt später für "Charlie Horse" zusammen mit Lupe Fiasco noch einmal zurück. Im verblüffend souligen "So Be It" ist Open Mike Eagle zu hören. Billy Woods und Elucid von Armand Hammer senden zusammen mit Aesop Rock auf der Frequenz von Radio "1010wins", und das abschließende "Unbelievable Shenanigans" veredelt wieder einmal Singer/Songwriter Hanni El Khatib. Der Ruf "Send Help" kann also gar nicht ungehört verhallt sein. Sie sind ja alle gekommen.

Dabei bräuchte Aesop Rock schon lange niemanden mehr, er ist längst nicht mehr nur Wort-, sondern auch sein eigener Beatschmied. Wie schon bei "Integrated Tech Solutions" und zum großen Teil bei "Spirit World Field Guide" gehen neben den Texten auch die Beats von "Black Hole Superette" komplett auf seine Kappe. Was gut ist, denn ... Miles Davis, wir erinnern uns? Niemand weiß so genau, was Aesop Rock meint, wie Aesop Rock. Deswegen kann auch niemand die Stimmung seiner Lyrics besser in Sound gießen als er selbst, was dann wiederum die Zugänglichkeit auf einer emotionalen, atmosphärischen, vegetativen Ebene kolossal erleichtert.

"Secret Knock" zum Beispiel: Von der ersten Sekunde fühlt es sich wie ein Tritt in ein Schlangennest an, wie sich da die Synthies um die Knöchel wickeln, ehe der Beat wie ein Herzschlag aufs Zwerchfell pumpt. Durch "Checkers" wabern ebenfalls Synthies, allerdings haben sie hier eher einen "Captain Future"-artigen Cartoon-Sci-Fi-Vibe, ehe sie in den Strophen fast schon Industrial-mäßig scheppern. "Movie Night" verwirrt mit chaotischer Percussion und Klavierakkorden, ein Beat wie ein bekiffter Stepptänzer, in dem Aesop Rocks konstante Stimme als Geländer fungiert, an dem es sich entlanghangeln lässt.

Über "1010wins" und "So Be It" wird es stufenweise melodiöser, nahezu groovy, während "Send Help" dann wieder auf das bewährte Stilmittel "gesprochenes Vocal-Sample" zurückgreift, hier aus einer geführten Meditation oder irgendeinem Selbsthilfe-Hörbuch geschnitten und mit einem "Fuck all that bullshit though" auch direkt wieder abgewürgt. "John Something" reitet danach fingerschnippend ein funky Piano, während "Ice Sold Here" erneut deutlich unsortierter und entsprechend weirder klingt. Jeder Beat hat seinen eigenen Vibe, von staubig-gespenstisch ("Costco") über oldschoolig ("Bird School"), dunkel und warm ("Black Plums") zu versöhnlich-beruhigend im abschließenden "Unbelievable Shenannigans": ein einziger Gemischtwarenladen eben, und in seiner Gesamtheit dann wieder ungemein stimmig.

Trackliste

  1. 1. Secret Knock
  2. 2. Checkers
  3. 3. Movie Night
  4. 4. EWR- Terminal A, Gate 20
  5. 5. 1010wins feat. Armand Hammer
  6. 6. So Be It feat. Open Mike Eagle
  7. 7. Send Help
  8. 8. John Something
  9. 9. Ice Sold Here
  10. 10. Costco
  11. 11. Bird School
  12. 12. Snail Zero
  13. 13. Charlie Horse feat. Lupe Fiasco & Homeboy Sandman
  14. 14. Steel Wool
  15. 15. Black Plums
  16. 16. The Red Phone
  17. 17. Himalayan Yak Chew
  18. 18. Unbelievable Shenanigans feat. Hanni El Khatib

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