laut.de-Kritik

Eine futuristische Soundwelt voller Liebe und Zuversicht.

Review von

Auf ihrem letzten Album "Vulnicura" verarbeitete Björk Gudmundsdottir 2015 die Trennung von Partner Matthew Barney, mit dem sie ein Kind hat. Dreizehn Jahre währte die Beziehung. Auf der Platte durchlitt sie sämtliche emotionale Stadien zwischen Trauer, Melancholie, Verzweiflung und Hoffnung. In "Utopia" erzählt sie nun von ihrer Selbstheilung. So zuversichtlich wie auf dieser Platte klang die Isländerin selten, obwohl die dunklen Geister in Songs wie "Sue Me" und "Tabula Rasa" immer noch nachhallen.

Die erste, mit sakralen Elementen bestückte Single "The Gate" handelt von der wiedergefundenen Liebe im spirituellen Sinne. Im von Andrew Thomas Huang (u.a. Sigur Rós, Thom Yorke) gedrehten Video sieht man eine offene Vulva in ihrer Brust, die einen leuchtenden Orgasmus beherbergt. Die Leere, die sie nach der gescheiterten Beziehung ergriff, betrachtet sie als Wendepunkt ihrer Existenz. Das gebrochene Herz von "Vulnicura" hat sich in ein Tor verwandelt, das sich auf dieser Platte nach außen hin öffnet.

Dabei ist ihr der venezolanische Musiker und Produzent Alejandro Ghersi alias Arca behilflich, der schon auf dem Vorgänger einen Großteil der Beats beisteuerte. Das Zusammenspiel der beiden ist intuitiv, beinahe erotisch. Da vermisst man nicht einmal die Eleganz eines Mark Bell ("Homogenic"). Man taucht ein in eine Klangwelt, die zum Faszinierendsten zählt, was elektronische Musik seit dem bionisch geprägten Konzeptalbum "Lifeforms" von The Future Sound Of London aus dem Jahre 1994 hervorgebracht hat.

In dieser futuristischen Welt, die Björk auch als Reaktion auf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten konzipierte, trifft man auf exotische Pflanzen, die Münder besitzen, farbenfrohe, fremde Kreaturen, die nie ein Mensch erblickt hat sowie Vögel, die süße und liebliche Melodien zwitschern. Ihre ausdrucksstarke Stimme in Verbindung mit tropischen, klaren Flötensounds untermalen diese prachtvollen Bilder. Damit sie vor dem inneren Auge des Hörers erst entstehen können, gründete und leitete die Sängerin ein aus zwölf Frauen bestehendes Flötenorchester, deren Arrangements in verschiedenen Kirchen in Reykjavik eingespielt wurden.

Man möchte ewig durch diese atmosphärischen Klanglandschaften streifen. Der Ausgangspunkt der Reise bildet "Arisen My Senses" mit monumentalen Arca-Sounds zwischen akustischer Wärme und elektronischer Experimentierfreude und der gedoppelten Stimme der 52-jährigen. In "Blissing Me" singt sie zu Harfensounds über zwei leidenschaftliche Musikliebhaber, die sich gegenseitig MP3s senden und sich in einen Track verlieben. Die tänzerische Melodieführung und die vertrackten Rhythmen Arcas führen zu einem sinnlichen Hörerlebnis.

Die Texte kreisen oftmals um ihre Liebe zur Musik und um Romantik generell. Sie nennt es deswegen ihr "Tinder Album". Einige Nummern wie "Courtship" spiegeln ihre Erfahrungen mit Dating-Apps wieder. "Tabula Rasa", das sich nicht zufällig auf die gleichnamige Komposition des estnischen Komponisten Arvo Pärt bezieht, klingt anhand ihrer wütenden wie traurigen Stimme, den dezenten Ambient-Klängen und den schweren Flötenarrangements ungemein schmerzvoll. Der Refrain kündet dennoch von Selbstermächtigung, wenn es heißt: "Break the chains of the fuck-ups of your fathers." Das herausragende "Loss", der einige Track ohne Arca, strahlt mit seinen kaputten Beats von Producer Rabit Zerrissenheit aus. Schließlich ist noch nicht jede ihrer Wunden verheilt.

Im Zentrum der Platte steht das über neunminütige "Body Memory". Neben dem drückenden Bass und der Stimme verleihen die Gesänge vom Hamrahlid Choir im Philip-Glass-Stil dem Track eine dramatische Note. Ein Song, der in die Offensive geht. Björk betont stärker denn je ihre körperliche, organische Seite. Sie übernimmt nun Verantwortung für sich selbst und ihre Umgebung und schlägt dadurch ein neues Kapitel in ihrer Biographie auf.

Am Ende führen "Saint" mit Sarah Hopkins und "Future Forever" in ätherische und helle Sphären. Die grauen und niederschmetternden Gedanken von "Vulnicura" spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die schwebenden Kompositionen umhüllen den Hörer wie eine dicke Wolkendecke. Man spürt Geborgenheit.

Aufgrund von politischen Veränderungen und ihrer tragischen Geschichte möchte die Isländerin mit dieser Platte aufzeigen, wie man die Erde zu einem lebenswerteren Ort gestalten kann. Vielleicht kommen wir mit Selbstliebe der friedlichen Idylle von "Utopia" eines Tages näher. 2017 steht Björk wie kaum eine zweite Musikerin im Pop für Fortschrittlichkeit.

Trackliste

  1. 1. Arisen My Senses
  2. 2. Blissing Me
  3. 3. The Gate
  4. 4. Utopia
  5. 5. Body Memory
  6. 6. Features Creatures
  7. 7. Courtship
  8. 8. Loss
  9. 9. Sue Me
  10. 10. Tabula Rasa
  11. 11. Claimstaker
  12. 12. Paradisia
  13. 13. Saint
  14. 14. Future Forever

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Bjorke,Kasper – Standing on Top of Utopia €6,75 €3,00 €9,75
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Björk – Utopia (Special Edition) (Softpack, 12 s. Booklet, Poster) €9,99 €3,00 €12,99
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Bjork – Utopia €17,62 €3,00 €20,62
Titel bei http://www.amazon.de kaufen BJORK – Utopia €35,00 Frei €38,00

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Björk

Sie ist klein und stammt aus Island. Ihre Musik aber ist groß und von Welt. Björk Gudmundsdottir wird am 21. November 1965 in Reykjavik geboren und …

22 Kommentare mit 56 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    es ist nicht etwas schlecht gemacht, nur weil man es nicht versteht, keine Verbindung zu finden kann. Sie verarbeitet auf ihre Weise Erlebtes. Schön wäre ein wenig Akzeptanz ..

    • Vor 6 Jahren

      "findest du nur nicht gut, weil du es nicht verstehst" ist ne recht unglücklich gewählte argumentation.
      ich mag björk sehr gerne. bin bei dem album aber noch nicht über den zweiten song gekommen. und der gefällt mir durch seine musikalische nähe zu joanna newsom ziemlich gut.

  • Vor 6 Jahren

    LOL @ all die white knights und Captains Save-A-Hoe hier.

    Eier wachsen aber nun mal auch nicht auf Baeumen.

    #YouToo

    • Vor 6 Jahren

      Wir waren uns ja an anderer Stelle gerade am einigen, dass es nicht fair ist, andere vor dem Hintergrund ihres Unwissens abzustrafen und doch...

      Phuket, Baude, du weißt dass ich viele deiner Posts hier sehr schätze oder zumindest amüsant finde, aber wir alle können hier nur verlieren, wenn du weiterhin darauf bestehst, den Frust darüber, dass deine Mum dir nie Yps-Hefte gekauft hat, in diesem Björk-Thread auszuagieren...

      http://www.ypsfanpage.de/gimmicks/eierbaum…

    • Vor 6 Jahren

      :D

      Btw: das neue Glassjaw-Albung ist, im Gegensatz zu anderen Comebackgeschichten der letzten Zeit, kein fail. Im Gegenteil - fuer mich wohl das beste (haertere) Gitarrenalbung der letzten Jahre. Ich meine, du und ich hatten es ja auch mal kurz mit der Truppe hier? Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, bin aber trotzdem relativ sicher, dass du damals Glassjaw gehoert hast - als es auf RR halt noch Mucke gab, die einzigartig klang. Und das hat sich auch nicht geaendert, jeder Ton ist absolut und unbedingt Glassjaw, und da meine ich nicht mal nur Palumbo. Ich bin jedenfalls hin und weg, das war genau das, was ich gerade brauchte, und wird wohl selbst JBG 3 (vorerst) verdraengen.

      ‚My Conscience Weighs A Ton‘ fuer mich evtl. das Stueck des Jahres.

      Wermutstropfen aber: Palumbo
      hat sich im Zuge dieser widerlichen #MeToo-Bewegung von seinen alten Texten distanziert. Lappen. Doppellappen. Falls sie 2018 mal in Europa auftauchen, werde ich ihn mal approachen, so als hiesse ich Sebastian Meisinger, und ihm dazu mal ein paar Toene floeten. Darauf kann sich der Kollege aber verlassen.

    • Vor 6 Jahren

      @Soulburn

      wie ist eigentlich deine meinung zu vernon subutex? ich habs durch und naja so doll vom hocker hat es mich nicht gerissen. :/

    • Vor 6 Jahren

      @Baude
      Erst mal danke für's Erinnern! Ich meine tatsächlich, dass ich mit dir schon mal länger die Rede von Glassjaw hatte und du seinerzeit gar derjenige warst, der mit News zu einem geplanten neuen Album um die Ecke kam. Hatte aber die letzten Jahre immer mal wieder Phasen, wo ich mir derartige Tipps nicht merken und/oder aufgrund meiner Verfassung nicht mit der nötigen Auffassungsgabe anchecken konnte.
      "Worship & Tribute" ist eines meiner Lieblingsalben aus dem letzten Jahrzehnt und ich bin bei den "Back to the roots"-Comebacks in dieser Dekade mindestens so skeptisch verblieben wie du, aber nehme mir deinen Eindruck gern als Anlass zum Reinhören am Wochenende!

      @Plonk!
      Dito, aber bist du denn durch alle drei Teile? (Was implizierte, dass dein Französisch hierfür gut genug ist, meines ist's eben nicht und entsprechend warte ich nun auch auf die deutsche Übersetzung des zweiten Teils, der wohl im Februar kommen soll.
      Es ist aber zugegeben aktuell wohl mehr der Sammeltrieb als das durch den ersten Teil geweckte Interesse an der weiteren Entwicklung der Geschichte und somit das exakte Gegenteil von der o.g. echten Vorfreude auf ein mitreißendes neues Glassjaw-Album.)

  • Vor 6 Jahren

    Wundervoll epochale Stilwirkung in urinierenden Raufasertapeten. Majestätisch artsy und pädagogisch pferdvoll