laut.de-Kritik

Wie der Zusammenbruch eines Universums.

Review von

Durand Jones stellt quasi die roughe Ausgabe Gregory Porters in der heutigen Musiklandschaft dar. Soul hört man bei ihm nicht so sehr als Abkömmling von Jazz, sondern eher als knochige Südstaatenmusik. Umso mehr überrascht es, dass er mit einem Walker Brothers-Geigenreigen sein Album "Wait Til I Get Over" entert. Vom Schmalz des Einstiegs "Gerri Marie" klafft ein großer stilistischer Abstand zu den höllisch wilden E-Gitarren im verzweifelten "Lord Have Mercy". Den Schritt zum Inferno bereitet eine Minute Geplapper mit Geräusch vor, die "The Place You'd Most Want To Live (Interlude)".

"Wait Til I Get Over" ist eine schrullige Platte. Sie kennt mehr Inhalt als Form, vereint Unikate, die nur rudimentär zusammenpassen und offenbart unheimlich viele Seiten dieses Musik-Akademikers, Saxophonisten, Songwriters und ausdrucksstarken Sängers. Der Titelsong "Wait Til I Get Over" vereint Gospel mit einem dumpf untergemischten Rock'n'Roll-Klavier im Geiste des unsterblichen Jerry Lee Lewis.

Und dann gibt es eine ganz befremdliche, aber irre spannende Abmischung, bei der man den Eindruck hat, Karussell zu fahren. "That Feeling" erprobt den Kehlkopfüberschlag: übersteuerte Gesangs-Aufnahme, spannende Triller-Vocals und raues Soul-Rock-Gekrähe, umhüllt von Orchester, Chor und gefühlt dem Zusammenbruch des Universums. Doch auch stille, intime Passagen mischen sich ins große Dramarama. Die "See It Through (Interlude)" markiert dann die Ruhe nach dem großen Sturm. 

"See It Through" vereint die White Stripes mit den Temptations und der Jon Spencer Blues Explosion, was erstaunlich fantastisch, abgefahren und sympathisch klingt. Bratzelt der explosive Funkrock-Underground-Rapper Skypp in "Someday We ll All Be Free ft. Skypp" dazwischen, dann weiß man gar nicht mehr, auf welchem Planeten des Pop-Kosmos man gerade strandet - zumal das Lied nochmal wie Scott Walker anfängt. Neben der schieren Kunstgewalt dieser exzentrischen Platte gibt es dann auch Stellen, an denen sie den Hörer durch ihr Verhältnis zur Zeit berührt. "Letter To My 17 Year Old Self" lässt sich mit fast sechs Minuten als längster Track der Scheibe zählen, aber auch als der effektivste. 

Im Grunde handelt es sich um mehrere Fragmente, die zu einem Track zusammenwachsen, ausgehend von einer Akustik-Einleitung an den Tasten. Darauf schichtet sich eine versponnene, dräuend ziepende Space-Rock-Fläche mit Raketen-Flair, als seien das die Geräusche, die das Beamen zum nächsten Planeten signalisieren. Pathetischer Electro-Soul übernimmt und prallt gegen Blubber-Effekte und ein Saxophon in bester Cool Jazz-Tradition. "Secrets" lässt am Ende zwei Minuten lang Wasser plätschern.

Nicht mal Jon Batiste oder Fantastic Negrito lehnen sich künstlerisch so weit aus dem Fenster, wie der Musiker aus Louisiana und Texas, den man bisher mit der Gruppe The Indications verbindet. Nach durchaus schönen, aber eher weichen, gleichförmigen, unauffälligen Alben in den vergangenen Jahren (zuletzt im Sommer 2021), fällt dieses supercool gemachte "Wait Til I Get Over" aus dem Rahmen.

Als Anspieltipp für Soul-Freaks sei noch das scharf durchgeorgelte "I Want You" empfohlen: Chicago-Soul baut sich auf und zersetzt sich sogleich zwischen krachenden und peitschenden Broken Beats. Durand gibt dazu so richtig deftig alles, was man mit einer Stimme machen kann - eigentlich fehlt nur noch Jodeln.

Nicht alle Tracks kann man im engeren Sinne als schön bezeichnen, aber sie fallen richtig krass auf. Bei den meisten Platten trifft man auf eine gewisse Wiederholung, viele Artists verfangen sich in einer Schleife. Hier hingegen wird wahrscheinlich sogar Durand schwindlig, wenn er seine Platte selbst noch mal anhört.

Trackliste

  1. 1. Gerri Marie
  2. 2. The Place You'd Most Want To Live (Interlude)
  3. 3. Lord Have Mercy
  4. 4. Sadie
  5. 5. I Want You
  6. 6. Wait Til I Get Over
  7. 7. That Feeling
  8. 8. See It Through (Interlude)
  9. 9. See It Through
  10. 10. Someday We ll All Be Free ft. Skypp
  11. 11. Letter To My 17 Year Old Self
  12. 12. Secrets

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