laut.de-Kritik
Blubbernde Tristesse: Als würde Mark Ronson Baxter Dury produzieren.
Review von Philipp Kause5:50 Minuten dauert ein Track von "Mercy" im Schnitt, so viel Art Pop-Entfaltung muss sein. Dass John Cales Überraschungs-Spätwerk so cheesy wie ein Electrofunk-Sampler von Kitsuné klingt, könnte manche alte Fans erschrecken. Bekannt ist er aber genau dafür: als Grenzenverschieber. Und wenn er beschließt, dass sich Advanced sound experience heute so anhören muss, dass Ambient-Patchworks mehr Struktur erhalten und Thundercats Schlafzimmer-R'n'B die wahre Hipness von 2023 darstellt - dann verschiebt er ja schon wieder eine Grenze: Nämlich die, dass Kunst immer verkopft und kratzbürstig sein muss, um wahrhaft diskurstauglich zu werden.
Vielleicht hatte er aber auch einfach bloß Lust auf eingängige Melodien, die ordentlich in die Länge gedehnt werden, und verfolgt gar nicht den Anspruch, zu verstören oder als Alt-68er noch die heutige Musiklandschaft herauszufordern. Dem System Spotify entziehen sich seine Monumental-Tracks gar nicht mal stilistisch, dort würden sie gut zum Kolorit der heutigen Dance-Welt passen. Aber durch die Spiellängen landet er weit jenseits der dort üblichen zwei Minuten 22. Und irgendwie fordert Cale ja heraus, weil wohl kaum jemand mit derlei soulful blubbernden Soundscapes gerechnet hätte. So soulig, dass ich sie als Urban-Soul-R'n'B-Freak feiere, und ihm womöglich noch der Vorwurf der 'Aneignung' entgegen schallen könnte.
Es scheint in den Feuilletons heutzutage als besonders hip zu gelten, wenn man sich in Dystopie und Perspektivlosigkeit überschlägt. Dieses Spielchen tanzt der hochbetagte Velvet Underground-Veteran aber nur am Rande mit. Das Ende der Welt ist für ihn zwar noch nicht erreicht, "Not The End Of The World" klingt trotzdem recht trostlos. In Summe überwiegt eher eine verschlumpftes Wohlfühl-Atmosphäre. Alleine, dass er seine alten Zeitgenoss*innen überlebt hat und mit der Generation der heutigen Mittdreißiger zusammen musiziert, ist wohl schon ein Grund zur (Lebens-)Freude. So nachtverhangen die Platte vordergründig scheint, man kann ihr weder Schwung noch positive Vibes absprechen.
Freuen kann er sich über sein Lebenswerk und Vermächtnis: Lou, Nico, Andy Warhol, David machten gemeinsam mit ihm mit Mitteln der Populärkultur gewissermaßen Hochkultur, zuerst ohne von ihr anerkannt zu werden. Und in dieser Vergangenheit gründelt Cale: Nico ist ihm ein Kapitel wert, "Moonstruck (Nico's Song)", kein Wunder. Der Longplayer eines 80-Jährigen darf natürlich Bezüge auf ein langes Leben herstellen. Überhaupt stecken in den Lyrics ein paar Clous, gleichwohl man der sphärischen Musik genauso gut ohne Bewusstsein für die Inhalte lauschen und die starken, dichten Stimmungen der Tracks intuitiv erfassen kann.
"Night Crawling" handelt von einem Schlüsselmoment in Cales langem, künstlerischen Leben. In den 70ern durchquerten er und Bowie intensiv den Big Apple. Es war eine ambivalente Zeit, denn einerseits stimulierte und inspirierte das riesige kulturelle Angebot. Andererseits vermochten sie nicht, die vielen Ideen schnell genug und produktiv in Platten umzuwandeln. Zu vielen Reizen war man ausgesetzt.
"Es gab viel an Gerede darüber, irgendwelche Arbeitsergebnisse fertig zu stellen, aber natürlich fanden wir uns ständig unterwegs in den Straßen wieder, manchmal bis wir keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn eine Song zusammen setzen konnten! Die Sache mit dem schöpferischen Prozess in der Musik ist die Fähigkeit, einen Gedanken oder ein Gefühl zu erraten, selbst wenn die Wirklichkeit sagt, dass es von der Logik her unmöglich ist."
"Wir machten hart Party. Nachts bekamen wir es einmal hin, uns zu einem Wohltätigkeitskonzert zu treffen, für das ich ihm einen Abschnitt an der Viola beibrachte, damit wir zusammen auftreten konnten. Als ich 'Night Crawling' schrieb, rief ich mir diese besondere Zeit vor Augen: Dieses Eigenartige von New York City, dass es die Kunst im Griff hielt, stark genug, ihr ein sicheres Umfeld zu geben, und gefährlich genug, sie interessant zu halten.”
Auch hier kann man von einem Nachtalbum sprechen - einer Platte, die sich dem Glanz und den Geheimnissen der dunklen Stunden zuneigt. Phasenweise wippt man zaghaft mit und könnte meinen, Mark Ronson produziere hier Baxter Dury. Und hier trifft der Promotext wirklich mal den Kern, spricht er doch von "Dark-Night-of-the-Soul-Elektronik." Dem 80-Jährigen gelingt das Unterfangen bestens, obschon die Nummern mit fortschreitender Spielzeit ein bisschen gleichförmig wirken. Cale goes Mixtape. Wäre diese CD eine Pop-Art-Ausstellung, würden dort wohl lauter in Farbe und Größe einander ähnliche Gemälde hängen, die in der Farbpalette lila-indigoblau-anthrazitgrau schimmern und lange dünne Linien mit ein bisschen Pointillismus zeigen.
So viel Electro punktuell nahe an der Chiptune-Ästhetik in Game-Soundtracks schwurbelt, man muss fairerweise den Multiinstrumentalisten in ihm würdigen: An Keyboards, Bass und Schlagzeug ist er am Werk und integriert zudem eine Schar an Gastmusikern. Aber gleichgültig, wer an den Liedern mitwirkt, heraus kommt immer wieder ein gleichmäßig waberndes Pulsieren, als sei "Mercy" für eine Yoga-Session komponiert.
Nur "Everlasting Days" mit dem Animal Collective schert aus und gluckert lustiger und rhythmisch lockerer. Gut, "Noise Of You" hat ein bisschen Industrial-Touch. "Story Of Blood" mit Weyes Blood dagegen ein flächiges Intro mit Laid Back-R'n'B und Glitch-artigen Fiepgeräuschen, und "Marilyn Monroe's Legs (Beauty Elsewhere)" mit der Beteiligung von Actress ein paar Drone-Morsezeichen und Verzerr-Effekte auf der nahezu a capella auf den Synth-Layers gleitenden Stimme.
Als Leckerbissen ätzen die politischen Parts mitten in den Betroffenheits-Mainstream aus Corona, Krieg und Klima, der etwas ganz Simples vergessen macht: All diesen Krisen könnte eine starke Wertegemeinschaft mit mehr Kraft begegnen. "Die Größe, die Europa besaß / ist dabei im Schlamm zu versumpfen (...) Die Melodie, die Sprache war / war der Haken, an dem der Fisch hing / Habt ihr gemerkt, wie spät es war? / Später, als ihr dachtet / Ich schlafe, schlafe, schlafe / und die Zeit steht still", verlautbart "Time Stands Still" an der Seite des Electropop-Duos Sylvan Esso. Schön strahlen solche Details, wie etwa das Wortspiel mit der 'Hook', die in der Musik die Chorus-Melodie und beim Angeln der Haken ist. Bowie wäre sicher stolz, dass sein Kumpel das Fahnden nach Europas ideellem Kern, von seinen Songs (wie z.B. "How Does The Grass Grow?") des Albums "The Next Day" hier ein Jahrzehnt und einen Brexit später fortsetzt.
Solche Zeilen und die unaufdringlich melancholische Stimmungsdichte machen den größten Reiz des Albums aus. Nach hinten hinaus schwächt sich der Ideenreichtum merklich ab, und die Konturen der Songs verschwimmen zu Ambient-Klangstudien ("I Know You're Happy", "Out Your Window"), die keine Grenzen mehr verschieben und nichts Besonderes mehr aus dem Velvet Underground-Erbe herauskitzeln oder sich in grenzwertigen Drum'n'Bass-Elementen verlieren ("The Legal Status Of Ice"). Bis dahin ist man jedoch längst dem semi-morbiden Charme des Longplayers erlegen - einer Mischung aus Galgenhumor, Resignation und Neugier inmitten von Kontrollverlust.
1 Kommentar
Habe mir gerade das Night crawling video angesehen. Lustig, dass dem Video-Artist nicht aufgefallen ist, dass Bowie gar keine unterschiedlich farbigen Iriden (angeblich der Plural von Iris) hatte, sondern das nur durch die auf einem Auge stark vergrößerte Pupille so wirkte. Die hat er aber immerhin korrekt dargestellt.
Andererseits ist das vielleicht gar nicht so wichtig....