laut.de-Kritik
Der Grunge-Wilderer umarmt den Postpunk.
Review von Michael SchuhAls Mark Lanegan 2013 sein Coveralbum "Imitations" veröffentlichte, fragte ich ihn im Interview, warum er nicht auch Favoriten aus dem Electro-Pop-Sektor, etwa von New Order interpretieren wollte. Es sei "eine andere Art von Musik", so die ausweichende Antwort. Obwohl er sein Alt-Rock-Template schon im Vorjahr auf "Blues Funeral" erstmals für eisige Keyboardsounds öffnete ("Ode To Sad Disco"), war der Amerikaner im Genre noch eher ein Wilderer. 2019 quälen ihn in dieser Hinsicht keine Gewissensbisse mehr.
Noch immer umklammert Lanegan die Düsternis wie der Süchtige die Flasche. Die Keyboards auf Anschlag gedreht, geht "Somebody's Knocking" noch einen Schritt weiter in Richtung Postpunk. Grunge- und 70s-Rock-Platten hat er eh genügend aufgenommen. Schon im Titel wie eine Fortsetzung des erwähnten "Ode To Sad Disco" anmutend, überstrahlt das auf programmierten Beats federnde "Dark Disco Jag" die Platte als finsteres Doom-Konstrukt, das unschlüssig zwischen den Einflüssen Depeche Mode, The Gun Club und The Sisters Of Mercy hin und her pendelt. Ein unerwarteter Moment, zumal "Disbelief Suspension" als Opener eher auf eine weitere Lektion in hektischem Dark Rock hinwies.
Sein zuletzt auf "Gargoyle" im Übermaß aufgetretenes Talent, hymnische Refrains aus seinen spirituellen Rock-Mantras heraus zu pressen, ist zwar noch spürbar. "Somebody's Knocking" glänzt aber eher durch punktuelle Highlights und wirkt im Gesamtkontext hier und da zu gefällig. So ist "Stitch It Up" sicher nicht mehr als eine Fingerübung, die er nachts um drei Uhr auf Geheiß aus der Horizontalen einröcheln könnte. Auch "Radio Silence" lädt zum Skippen ein, was selbstverständlich auch dem hochkarätigen Umfeld geschuldet ist.
Die sternenklare Keyboard-Andacht "Playing Nero" geht als mutigster Lanegan-Song durch und löscht alle Verbindungen zu seiner Screaming Trees-Vergangenheit. Herrlich schon hier, wie der knöcherne Basslauf in alter Postpunk-Tradition in den Vordergrund gemischt wurde. Spätestens aber bei "Name And Number" dürfte Peter Hook hektisch die Joy Division-Platten rauskramen, um spontan aufblitzende Plagiatsverdächtigungen gegenzuchecken. Lanegan ist's egal, "Penthouse High" legt dann gleich New Order auf links - was kümmert ihn schon sein Geschwätz von gestern?
Abseits des Aufnahmestudios hoffentlich viel, denn derzeit schreibt er seine Autobiografie, die kommendes Jahr erscheinen soll. Bei Kollaborationen mit QOTSA, Dave Gahan, Melissa Auf der Maur und natürlich Kurt Cobain erwarten uns da wohl spannende und vor allem poetisch formulierte Anekdoten. "Somebody's Knocking" fehlt vielleicht etwas der Spannungsmoment der letzten Releases, ansonsten gilt das alte Cash-Verdikt: Der Mann könnte IHK-Abschlussprüfungen aus Mittelfranken einsingen und ich würde es immer noch feiern.
1 Kommentar
Gutes Album, aber so ein richtiges Highlight wie Beehive fehlt.