laut.de-Kritik
Essenzielle Tracks kompakt auf einer perfekten Live-Platte.
Review von Philipp KauseBesser könnte eine Konzert-LP von Neil Young nicht beginnen als mit einer grunge'igen Version von "Mr. Soul". Die schräge Disharmonie der Akkordfolge vermittelt sich besonders markant durch die kratzig gejammten Riffs. Ein chronologischer Anfang in einem Repertoire-Abbild. "Noise & Flowers" repräsentiert als Live-Set Youngs gesamtes Schaffen.
Dabei hilft eine Begleitband, die Americana, Country-Rock, Erdiges kann: Promise Of The Real, ein fünftes Mal auf Albumlänge mit dem Kanadier (der inzwischen ja doch auch US-Ami ist) vereint.
"Everybody Knows This Is Nowhere" von der gleichnamigen '69er-LP von Neil Young and Crazy Horse versteht sich als taumelnde und bisweilen gniedelnde Rockmusik. Sie findet im Bass und in tiefen Resonanzen ihre Identität, mit Visionen und Folk hat sie derweil abgeschlossen. Hier geht es um Ausweglosigkeit. "Everybody Knows This Is Nowhere" ist dystopisch und nihilistisch. Es gibt kein Zuhause. Nostalgie ist die Sehnsucht nach einer Zeitphase, die es nie gab. An einem (fraglichen) Ort, an dem man zur Ruhe kommt: "I gotta get away from this day-to-day / running around / Everybody knows: This is nowhere." So verbleibt man hilflos, wie auch die heulende Mundharmonika in "Helpless" unterstreicht. Da Young die selbst spielt, bräuchte es in diesem Punkt nicht mal zwingend solche Multiinstrumentalisten-Talente wie die Promise Of The Real. Das Eins-A-Quintett hätte mit Logan Metz sogar ein Bandmitglied, das ebenfalls zur Mundharmonika greifen könnte.
"Helpless" handelt von der Polio-Erkrankung (Kinderlähmung), die Young jung mit fünf ereilte und einen bleibenden Wirbelsäulenschaden hinterließ. 1970/71 machten ihm die Beschwerde so stark zu schaffen, dass er ohne Behandlung mit starken Schmerzmitteln und OP "helpless" war. Das Stück entstammt dem Album-Klassiker "Deja Vu", aus seiner dritten Band-Station im Quartett Crosby, Stills, Nash & Young, kurz CSNY. Auch wenn es rückblickend oft so betrachtet wird, als seien CSN ohne das Y unvollständig, gab es David, Stephen und Graham erst zu dritt. Und als Viererbesetzung mit Neil stellten sie zuerst mal nur anderthalb Alben fertig. Allerdings überstrahlen die alles ohne Young so sehr und zeigen sich viele der Songs so ergiebig, dass diese Konstellation den Maßstab setzte.
Young stieg wieder aus und veröffentlichte solo "Harvest", womit er sich selbst einen Folkrock-Blueprint druckte, namens: "Heart Of Gold". Wäre auch dieser Hit noch auf "Noise & Flowers", man wüsste gar nicht, wohin vor lauter Glücksmomenten. Doch auch das synkopisch schreitende "Alabama" profitiert von der optimistischen Sonnigkeit der Promise Of The Real, Lukas Nelsons Gruppe.
Soul im Rhythmus, Grunge in den Drums und den Verstärkern, Southern Rock in der Dynamik, Folk im rustikalen Gesang mit lang gezogenen Silben und schroffe Härte im Erscheinungsbild – "Alabama" zehrt von allem ein bisschen. Im Studio machten seinerzeit Crosby und Stills für den Background-Chor mit, während Nash auf "Are You Ready For The Country" trällerte. Das Wiederhören dieser Nummer ist auf Noise & Flowers" schon deshalb willkommen, weil die saubere Instrumental-Einleitung mit - erneut synkopischem - Klavier zum Mitwippen anstößt.
Das Titelstück von "On The Beach" mit seinen sieben Minuten, die hier live reproduziert werden, gleitet eher impressionistisch in zarten Strand-Groove. Der geleitet den Künstler behände in falsettige Höhen. Wie fasziniert die Masse reagiert, ist eine der wenigen Nuancen, in denen die Konzert-Variante sich von der Studiofassung vor fast einem halben Jahrhundert unterscheidet. Das Raunen des Publikums nimmt man nur ein paar Sekunden wahr. Intensität, Struktur und Soli kopieren das Original. Und auch das fällt auf: Die ganzen Tracks hier atmen zwar alle irgendwie den Hippie-Geist und die Ästhetik von Woodstock und der Flower Power-Ära, aber sie haben sich gut gehalten und wirken nicht weit weg, sondern zeitgenössisch.
Youngs 1980er sind rar vertreten. Dafür steht mit dem Hit "Rockin' In The Free World" (auf "Freedom", 1989) eines der großen Essentials des Künstlers an. Inklusive Zittern in den Riffs und schmetterndem Choralgesang, inklusive Bon Jovi-artiger Stadionmomente und einer verwaschenen aber stürmischen Soundqualität, bleibt auch diese Version nah an dem, was der Song immer war: Rotzig. Das Lied ist aber im engeren Sinne nicht nur deshalb ein Stück Achtziger, weil es da raus kam, sondern weil er Zeitgeschichte schrieb.
Denn Young erkannte gleich in den ersten Wochen, dass der frisch ins Amt gekommene George Bush (senior) so gar nicht glaubwürdig sei und erkannte den heraufziehenden Konflikt mit der Region Iran/Irak. "Rockin' In The Free World" enthält in dieser Live-Version eine knackige Parade an den Drums (Anthony LoGerfo) und ekstatisches Jaulen an der Lead (Young selbst). Die zehn Minuten verstreichen extrem kurzweilig und gipfeln in einem kakophonischen Industrial-Gewitter erster Güteklasse. "Rockin' In The Free World" blieb immer aktuell, ob im zweiten Irakkrieg, in Bernie Sanders' Wahlkampf 2016 oder auch in der ungefragten Verwendung durch Donald Trump 2020 samt anschließendem Gerichtsverfahren, und die Nummer wird fleißig gecovert.
"Winterlong" (1989, Crazy Horse) und "Comes A Time" (1978) kehren den Falsett-Neil hervor und auch seine Singer/Songwriter-Seite. "Throw Your Hatred Down" aus "Mirror Ball" – noch eine der ganz legendären Scheiben aus dem Back-Catalogue – donnert rockig die Bühne herunter. Auch hier entschied man sich zum Glück für die super-lange Performance, während Pearl Jam den Tune aktuell auch spielen, in einer nicht ganz so langen, aber auch ordentlich gedehnten Fassung.
Eines der weiteren Highlights auf "Noise & Flowers" liefert das akustische "From Hank To Hendrix" mit Reminiszenz an Hank Williams und kristallklaren Mundharmonika-Tönen, die berühren. Der krachlederne Rausschmeißer "Fuckin' Up" gehörte sowohl bei Pearl Jam als auch bei Bush schon in Live-Sets und zählt in Neil Youngs Diskographie-Dschungel zu den Raritäten. Gleichwohl essenziell, und ein Ereignis in Sachen Lärm-Aufbau und "Noise"-Dehnung und Entladung. Das dreckigste Stück der Platte. Auch dasjenige, das am meisten rhythmisch federt.
Obwohl Promise Of The Real ihre Stärken eher in der Subtilität ausleben, gehen sie die Amplifier-Explosiönchen schneidig mit. Manchmal kann es in dieser Konstellation so "Paradox" sein, wie ein früherer Release von Young und den POTR mal hieß: Dass gerade diese traditionsbewusste Band die dirty noise-Komponenten, die in Neil Youngs Musik schlummern, am ehesten zum Leben erweckt.
"Unser Bandname verspricht ja das Reale, dem Wirklichen nahe zu kommen. Das passt gut zu Neil. Wir verbrachten Stunden damit, zu seiner Musik auf Bongo-Trommeln zu jammen, und alles fing um Neil herum an", erinnert sich Willie Nelsons Sohn Lukas an die Phase, als die bereits sieben Jahre lang bestehende Gruppe zur Backing-Band des erheblich älteren Herrn Young wurde. "Wir waren auf Wolke Zehn. Neil mailte uns und schickte uns eine Demo-CD mit nur ihm, Akustikgitarre und Mundharmonika. Neil mag es nicht, wenn man es perfektionistisch macht, aber wir wollten uns schon vorbereiten und proben. Als er dann kam und das erste Mal mit uns spielte, packte er einen komplett anderen Song aus, den niemand kannte, weil er ihn an diesem Tag gerade geschrieben hatte", beschreibt Logan Metz von POTR 2015 die Arbeitsweise mit dem Grunge-Folkrocker. Die Band und der Komponist sind zu einer Einheit verschweißt, die einen gar nicht lang zögern oder nachdenken lässt.
Die Konzertreise 2019 führte nach Dresden, Berlin, Mannheim, München, Antwerpen, Amsterdam, London und ins dänische Odense. "Noise & Flowers" erscheint als LP, CD, LP plus CD plus Hochglanz-Dolby Atmos-Files, gemäß Youngs Glauben an den perfekten Sound im digitalen Zeitalter. Ferner kommen eine BluRay sowie das Kombi-Gesamtpaket als Deluxe heraus. Die Fans des 76-Jährigen brauchen ganz schön Geld, um mit den vielen Releases Schritt zu halten, doch dieser hier deckt sozusagen den 'ganzen' Neil in all seinen Facetten mit einschneidenden Songs ab.
4 Kommentare mit 5 Antworten
Richtig guter Stoff
Das Beste seit langer Zeit. Auch die einzelnen Versionen der Klassiker, sind bei bester Spiellaune und durchaus Variantenreich...ich bin echt überrascht
Auf Spotify werde ich damit ja nicht belästigt.
Musik die nicht belästigt ist seelenlos.
Find nur ich den Sound elend?
Nein, aber das scheint niemanden zu interessieren.
Warum dieser doch nicht ganz unwichtige Punkt bei Musik in den Rezensionen so gut wie nie eine Rolle spielt, mag verstehen wer will.
Du hast völlig recht: Entsetzlicher Soundbrei.
Auch die Stimme ist mittlerweile elend.
Gutes Album vom Altmeister