laut.de-Kritik
Dieser Sound hat die Musikwelt von Grund auf verändert.
Review von Toni HennigNeu! lieferten mit ihren experimentellen Klängen alternativen Acts wie Sonic Youth, Tortoise oder Stereolab die Vorlage für einen neuen Sound, hatten aber in ihrer deutschen Heimat nur mäßigen Erfolg. Die größte Anerkennung kam aus Großbritannien. Im März 1972 erschien das wegweisende, selbstbetitelte Debüt der in Düsseldorf gegründeten Band. Aus diesem Anlass kommt nun mit "50!" dank Grönland Records ein umfangreiches CD- und Vinyl-Boxset auf den Markt, das die ersten drei (LP-Box) bzw. vier (CD-Box) Longplayer sowie ein Doppelalbum namens "Tribute" mit Coverversionen und Remixe von verschiedenen Acts wie The National, Mogwai oder Alexis Taylor (Hot Chip) umfasst.
Die Kernbesetzung von Neu! bestand seit jeher aus Klaus Dinger und Michael Rother. Bevor die beiden 1971 die Gruppe ins Leben riefen, bildeten sie zusammen mit Florian Schneider-Esleben die Mark II-Besetzung von Kraftwerk und gaben auf Tour rockige Improvisationen zum Besten, mit denen Rother, der sich als Autodidakt das Gitarrespielen selbst beibrachte, sein Spiel weiterentwickeln konnte. Danach tat sich Schneider wieder mit Ralf Hütter zusammen, um unter der Aufsicht Conny Planks eine ganz eigene Platte aufzunehmen.
Zusammen mit Plank entstand auch das Debüt (5/5) von Neu!. Der war mehr als nur ein normaler Producer. Conny fungierte nämlich als Ideengeber, musikalischer Mitgestalter und Mentor für die jungen Musiker und handelte zudem noch während der Recording-Sessions als Vermittler zwischen den beiden Streithähnen, die persönlich so grundverschieden waren wie Lou Reed und John Cale bei The Velvet Underground.
Schon im Eröffnungsstück "Hallogallo" hört man im Zusammenspiel mit sphärisch melancholischen Gitarrenklängen und einem quietschigen Saiteneffekt den für Klaus Dinger typischen Motorik-Beat, den er zusammen mit Plank entwickelte. Dieser setzt sich aus einem pulsierenden Rhythmus zusammen, der während des gesamten Songs gleichbleibt. Aber auch sonst hat die Band mit der Scheibe die Musikwelt von Grund auf verändert.
So griff das melodische Saitenmotiv in "Weissensee" und "Im Glück", das beide Tracks eint, die Ambient-Musik um Jahre vorweg und "Negativland" ebnete mit seinem hypnotischen Beat, dem bedrohlichen Bass und den verzerrten Gitarrentönen Post-Punk den Weg.
Zur ersten größeren künstlerischen Krise kam es laut Rother schon während den Arbeiten zu "Neu! 2" (3/5). Der wollte mehr Melodik, während sein Kollege nach mehr Anarchie und Chaos strebte. Zudem verschaffte ein geringes Budget von der Plattenfirma den beiden noch weitere Probleme, so dass sie die zweite Seite mit Variationen von Songs der "Super/Neuschnee"-Single auffüllten. Dadurch bestand die Scheibe, die 1973 auf den Markt kam, größtenteils aus radikalen Klang- und Cut-Up-Experimenten.
Die sind lediglich für Leute interessant, die Neu! mal in Slow Motion ("Spitzenqualität", "Hallo Excentrico!") oder in Hyperspeed ("Neuschnee 78", "Super 78") hören möchten. "Für Immer (Forever)", "Lila Engel (Lilac Angel)" und "Super", die mit treibenden, kraftvollen Rhythmen und lärmenden Gitarrensounds in Nachhinein zahlreiche Indiebands beeinflussen sollten, geraten da weitaus spannender.
Künstlerische Differenzen hatte es auch während des Entstehungsprozesses zu "Neu '75" (5/5) gegeben, das 1975 erschien. Dinger und Rother fanden jedoch einen gemeinsames Kompromiss: Die erste Seite sollte Duoaufnahmen enthalten, mit Dinger am Schlagzeug. Auf der zweiten Seite sollte man Dinger dagegen singend an der Gitarre hören, während man seinem Bruder Thomas und Hans Lampe simultan am Schlagzeug vernimmt. Dadurch gelang der Band ihr vielschichtigstes und bestes Album. Danach trennten sich die Wege des Duos für lange Zeit.
"Isi" gibt mit zurückhaltendem Beat, verträumten Klavierklängen und Synthieeinsprengseln schon einen Wink auf Dingers Nachfolgeprojekt La Düsseldorf, während in "Seeland" die Hymnenhaftigkeit späterer Rother-Alben deutlich durchschimmert. "Hero" und "After Eight" lieferten mit kühler Motorik, rockiger Saitenarbeit und subtilen Keyboards die Grundlage für Punk und New Wave. Das erstgenannte Stück übte auf die musikalische Entwicklung David Bowies großen Einfluss aus. Rother war auch ursprünglich als Gitarrist für das "Heroes"-Album des Briten vorgesehen. Nur Bowies Plattenfirma war die Zusammenarbeit ein Dorn im Auge, so dass Robert Fripp den Posten des gebürtigen Hamburgers übernahm.
Bevor Rother Alben unter eigenem Namen veröffentlichte, spielte er zusammen mit den Cluster-Mitgliedern Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius als Harmonia mehrere Platten ein, darunter eine gemeinsame Scheibe mit Brian Eno namens "Harmonia '76 - Tracks & Traces". Thomas Dinger und Hans Lampe schlossen sich La Düsseldorf an. Die verkauften im Laufe ihrer Karriere mehr als eine Millionen Platten.
Im Oktober 1985 betraten die beiden wieder gemeinsam ein Studio, um an "Neu! 4" zu werkeln. Aufgrund immer noch bestehender Differenzen waren Meinungsverschiedenheiten aber wieder vorprogrammiert. Als Folge erfolgte die Trennung. "Neu! 4" kam erst 1995 auf den Markt, jedoch ohne Rothers Zustimmung, wodurch sich die Meinungsverschiedenheiten noch verschlimmerten, was dazu führte, dass man sich über eine offizielle CD-Veröffentlichung der drei ursprünglichen Neu!-Studioalben nicht einigen konnte.
Zur Wiederveröffentlichung auf Grönland Records kam es erst Anfang der 2000er-Jahre auf Vermittlung von Herbert Grönemeyer. Dafür sollten "Neu! 4" und "Neu! '72 Live in Düsseldorf" vom Markt genommen werden. Das 1985 und 1986 aufgenommene Material bearbeitete Rother auf Basis der Originalbänder. Das erschien 2010 unter dem Namen "Neu! '86" (4/5), zwei Jahre nachdem Dinger an Herzversagen verstarb.
Während den Aufnahmen arbeitete die Band mit mehr Synthesizern, was sich in den treibenden Minimal Wave-Nummern "Dänzing" und "La Bomba (Stop Apartheid World-Wide!)" besonders niederschlägt, gestaltet sich der Sound doch recht tanzbar und eingängig. Ansonsten bekommt man gewohnt punkige ("Crazy"), motorische ("Drive (Grundfunken)"), euphorische ("Wave Mother", "Euphoria") und experimentelle ("Paradise Walk") Sounds geboten, nur in etwas gemäßigterer Form als früher, was dem Hörgenuss aber keinen Abbruch tut.
Die Neuversionen auf "Tribute" (4/5) fallen mal mehr, mal weniger gelungen aus. Während sich The National und Man Man die pulsierende Rhythmik der Band zum Vorbild nehmen sowie auf einzelne Elemente der Originale zurückgreifen, um etwas gänzlich Eigenes zu kreieren, fügen die Remixe von Mogwai und Stephen Morris/Gabe Gurnsey den Neu!-Stücken nichts Substanzielles hinzu.
Gänzlich neue Tracks, quasi inspired by Neu!, haben Alexis Taylor und Guerilla Toss eingespielt. Die erweisen sich auch als spannender als die Neueinspielungen, so dass der positive Gesamteindruck überwiegt. Taylors "4+1=5" klingt mit verschlafenen akustischen Sounds, verhuschtem Gesang und schummrigen, melancholischen Keyboards wie eine verspulte Bedroom-Variante des Duos. Zudem streut der englisch-griechische Sänger gegen Ende noch ein paar Zeilen auf Deutsch ein. Guerilla Toss haben mit "Zum Herz" eine wahre Indie-Hymne am Start, die an die euphorischen Songs von "Neu '86" erinnert.
Rother machte zuletzt mit den beiden Werkschauen "Solo" und "Solo II" und einem gemeinsamen Album mit Vittoria Maccabruni namens "As Long As The Light" auf sich aufmerksam. Die Neu!-Stücke spielt er immer noch live. So bleibt die Musik des Duos immer noch gegenwärtig.
1 Kommentar
Zur Musik ist alles gesagt: Album 1 und 3 sind Pflicht, der Rest hat Höhen und Tiefen.
Der Preis für die Box ist mit 45 bzw. 115 € fair, es hätten aber mehr Bonustracks (Demos etc.) drin sein dürfen. Das Tributealbum ist mit 10 Tracks ziemlich mager ausgefallen.