laut.de-Kritik

Es nutzt sich doch ein bisschen ab.

Review von

SSIO ist zurück. Daraus machte er im Rahmen seiner Promophase und auf diesem Album einen ziemlich großen Aufwasch. Daraus machte er historisch gesehen bei quasi jedem seiner Alben einen großen Aufwasch. Aber es macht als selbsternannter "BWL"-Lehrer natürlich auch Sinn: Willst du etwas verkaufen, dann musst du die Leute daran erinnern, dass ihnen etwas gefehlt hat. Wenn er auf "Warum So Lange Weg?" also festhält, dass das neue SSIO-Album noch vor GTA 6 kommt, macht er es ganz clever.

Denn: Es ist nicht so, als wäre SSIO so viel weggewesen. Klar, er veröffentlicht nicht im Gucci Mane- oder Lil B-Takt, aber ein Frank Ocean ist er nun wahrlich auch nicht. Er hat für seine Zeit im Game eine relativ handelsübliche Menge an Alben veröffentlicht. Meine Theorie: SSIO muss uns vor jedem Promozyklus mit Feuerwerk wissen lassen, wie sehr wir SSIO denn vermisst haben, weil SSIO nicht wirklich neue Ideen hat. Und die Reaktion 'Gott sei Dank ist er wieder da, ich habe den Sound von früher vermisst' ist vermutlich fruchtbarer als 'ach du je, jetzt macht er wieder das Gleiche'.

Das klingt jetzt gemein, ist aber ganz nüchtern gemeint. Nach dem kurzen Ausflug auf etwas modernere Beats auf "Das Neue Album" schwenkt SSIO zurück auf die Golden Era-Westcoast-Beats, die so lange schon seine Signatur sind. Und wenn er auf der Lead-Single "Alles Oder Nix" mit einem supermegapompösen Videoclip wieder auf derartiger Produktion aufschlägt, dann fühlt es sich definitiv ein bisschen so an, als würde ein ehemaliger Champion nach Verletzungspause wieder in den Ring steigen. Ich bin einer von vielen, für die "BB.U.M.SS.N" eine formative Deutschrap-Erfahrung war. Ich liebe das Album - und entsprechend warm leuchtete mein Nostalgie-Zentrum bei den ersten Singles auf. Ich kenne das! Ich mag das!

Die Krux an diesem Album wird jetzt sein, wie viel Glauben man dem Satz 'never change a running system' schenkt. Vielleicht sollte ja schon Dankbarkeit herrschen, dass einer der verlässlich guten Artists unserer Szene nach fünfzehn Jahren im Game nicht wack geworden ist, sondern seine Routinen immer noch auf hohem Niveau abliefern kann. Tracks wie "Dein Leben Ist Gefickt" oder "Tam Psychopath" überzeugen definitiv mit drückenden Bässen und einem technisch wahnsinnig beeindruckendem SSIO, der in seinen dichten Kombos trotzdem noch regelmäßig wahnwitzige Punchlines versteckt oder ganze Szenen von großer komödiantischer Absurdität zeichnet.

Will heißen: "Alles Oder Nix" ist ein unterhaltsames, souveränes Album, das weit von einem Ausfall entfernt ist. Trotzdem will es für mich nicht wirklich hitten - und ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich nur die Beschwerde ist, dass es sich nicht weiterentwickelt. Theoretisch sollte, wenn man den selben Song tausend Mal wirklich gleich macht, der tausendste Song ja nicht schlechter als der erste sein, oder?

Es gibt ein paar kleine Makel, die ich anbringen kann. Erstens bin ich kein Fan von der über die letzten Alben gewachsenen Boomer-Haltung, die SSIO manchmal zeigt. Nicht, weil ich ein Problem damit habe, wenn der Mann sich über Zah1de oder Lil Uzi Vert lustig macht. Das Problem ist aber, dass man einem Komiker anmerkt, wie viel Peil er von seinem Material hat.

Es kommt auf diesem Album recht oft vor, dass die ratternden Reimketten einen einfachen Namedrop über eine richtige Pointe setzen. Das gibt es generell: "Scheißegal, ich bleib' am Ball, nenn mich Lamine Yamal", "Jung und reich, nenn mich Kylian Mbappé", "Frauen, die ich ficke, sehen aus wie Jeremy Fragrance", "SSIO mach mal lieber Tracks so wie "Wildberry Lillet". Klar, das sind jetzt einzelne Lines aus einem ellenlangen Sumpf an Parts, aber es fällt auf. Besonders der Samy- und Ewa-assistierte Track "Google Translate" hat eine ziemlich facebook-kommentarige Aura. Statt wirklich einen Witz zu machen, droppt er einfach einen gemeinhin bekannten Namen an der Stelle, wo etwas Witziges stehen sollte. Unser Hirn baut dann aus irgendwelchen Gründen das Gefühl nach, dass da tatsächlich etwas Witziges passiert sei. Family Guy oder Cards Against Humanity funktionieren quasi ganzheitlich nur dank dieses Prinzips.

Aber auch allgemein: Es kann nicht gut sein, dass man jede Line und jeden Part beliebig auf jeden anderen Song herumschieben könnte. Klar, es ist Battlerap, es ist sein Ding, aber über 50 Minuten entsteht in der Gleichförmigkeit der Tracks doch ein starkes Gefühl von Monotonie. Besonders auffällig wird das ab "Dein Leben Ist Gefickt". Der ist stark, hat ein cooles Muster für die Hook. Das Muster für die Hook verliert aber ein bisschen Eindruck, wenn es auf dem Folgetrack "Kack Ab!" 1:1 wiederholt wird. Noch mehr verliert es an Eindruck, wenn darauf der Folgetrack "Tut Den Song In Eure Playlist Und Macht Viele TikToks" schon wieder einen sehr ähnlichen Flow in der Hook benutzt.

"Alles Oder Nix" gibt mir ein Gefühl von Stillstand. Es ist das schematische Crowdpleaser-Album, das mit sehr viel Brimborium die Dreistigkeit entschuldigen soll, dass "Das Neue Album" kurz die immer gleichen Parts auf etwas anderen Beats darreichen wollte. Und trotz allen hohen Niveaus spürt man doch, dass es sich auch für SSIO selbst ein bisschen abzunutzen scheint. Vielleicht bilde ich es mir ein, er hält ja alles Qualitätsstandards objektiv ein.

Es gibt Momente, in denen man seinen gedrängten Flow und der genervten Stimme die Pflichtarbeit anmerkt. "Ich Ich Ich Ich Ich" mit K.I.Z ist ein seltsames Lowlight, auf dem niemand der vier eigentlich sehr charismatischen Rapper effektiv das Gefühl gibt, gerade gern auf diesem Beat zu sein. Auch "Fentanyl Vibe" und "Tut Den Song In Eure Playlist Und Macht Viele TikToks" kommen ohne viel Enthusiasmus daher.

Schlussendlich muss man sagen: Jup, SSIO ist zurück. Er ist zurück, wie er auf "MeSSIOs" zurück gewesen ist, er ist zurück, wie er auf seinem nächsten Album zurück sein wird. Und auch das nächste Album wird wahrscheinlich absolut okay sein, mit einem gigantischen Video eingeläutet, woraufhin er dann wieder halbironisch den Rap zu retten proklamieren wird. Auch mein Hirn wird dann wieder kurz leuchten und mir sagen: 'Das kennst du! Das magst du!' Aber man kommt einfach nicht drumherum: Ein bisschen nutzt es sich doch ab.

Trackliste

  1. 1. Warum So Lange Weg?
  2. 2. Alles Oder Nix
  3. 3. Fentanyl Vibe
  4. 4. OK
  5. 5. BWL
  6. 6. Sei Mal Ehrlich
  7. 7. Dein Leben Ist Gefickt
  8. 8. Kack Ab!
  9. 9. Tut Den Song In Eure Playlist Und Macht Viele TikToks
  10. 10. Keine Option (feat. Xatar)
  11. 11. CEO
  12. 12. Ich Ich Ich Ich Ich (feat. K.I.Z)
  13. 13. In Meinem Block
  14. 14. Tam Psychopath
  15. 15. Google Translate (feat. Schwesta Ewa & Samy)
  16. 16. Seepferdchen Pass
  17. 17. Ich Bin Raus
  18. 18. Geh Nachhause

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14 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor einem Tag

    Also doch eher Nix

    SSIO hatte seinen Zenit sehr schnell erreicht, Fluch und Segen zugleich

  • Vor einem Tag

    Es handelt sich um eine reizüberflutende lyrische Mischung aus Oldschool und Kopfnickerbeats. Ich als SSIO Fan habe genau das bekommen was ich wollte und voll bekifft erinnere ich mich eh nicht an die letzte Line.

  • Vor einem Tag

    So nun schreibt der gute alte Dieter auch mal was zu dem (auch nicht mehr so jungen) SSIO. Bitte nehmt es mir nicht übel, wenn ich nicht alles so verstehe was hier passiert (es passiert auf jeden Fall sehr viel)

    SSIO ist ein Ausnahmetalent. Er hat Flow und Betonung optimiert.

    Was mich allerdings düngt, ist dass SS (wie er sich auch selbst öfter nennt, somit keine Rassismus Debatte eröffnen, bitte!) immer mehr zur Karikatur seiner selbst wird.

    Beweis 1: während die Albumcover zu Bumsn und 0,9 noch irgendwie gut waren, sind die Albumcover von Messios und vor allem diesem hier vor mir liegendem Werk absoluter Trash. Das kann man einmal witzig finden, aber ein einmaliger Schenkelklopfer als Zeitzeuge auf Ewigkeit? Ich weiß ja nicht. Zum neuen Album sag ich an der Stelle nichts. Das ist Geschmackssache. Wobei der Gag schon damals mehr als ausgelutscht war (gag und ausgelutscht bitte im Kontext lesen!)

    Beweis 2: Wo früher noch das Absurde mit dem Asozialen gepaart wurde, hat man heute das Gefühl, hier steht ein Mann der im Leben angekommen ist und einfach nur lustig ist / sein will. Das Asoziale ist nur noch Fassade - da sein Markenzeichen. Nichts für Ungut aber ... nun ich weiß ja auch nicht!!

    okay

    Die Promophase hat mega gut begonnen, und SS war on point. aber am Ende hat er auch den Bogen überspannt. Immer noch besser als so manch ein anderer. Aber nach drei Singles hätte er schon das Albung doppen können.

    Alles in allem: 4/5 dennoch, allein weils SS ist - und weils deutlich mehr catched als Messios und das neue Album. Somit sein drittbestes Werk..

    Lieber Kanalreiniger, Lieber SSIO ich hoffe du kannst meine Kritik mit einem Augenzwingern nehmen - ich liebe dich trotzdem.

    - Dieter

  • Vor 21 Stunden

    SSIO macht SSIO-Dinge und das handwerklich wie immer gut und recht amüsant. 4/5

  • Vor 17 Stunden

    Ist das sch...... Da weiss ich wieder, was ich an z. B. Kae Tempest habe :-)

  • Vor 7 Minuten

    Stimme der Review gar nicht zu. Nach vielen Fehltritten der letzten Jahre ist das hier für mich der fresheste SSIO den wir seit 0,9 zu hören bekommen haben.

    Die "Boomer Haltung" die du beschreibst hatte SSIO schon immer, das ist Teil seines Images. Das Ganze hat er schon auf seinem ersten Album gemacht. Der Mann rappt primär auf 90er Beats und verkörpert das komplett, soll er jetzt so tun als ob er die neuesten Rap-Trends abfeiert? Natürlich nicht! Mit den Lines hebt er sich für mich eher aktiv vom Trend ab was gar nichts schlimmes sein muss.

    Mich holt das Album komplett ab. Ein Mix aus weiterentwicklung und treubleiben zum eigenen Stil. Von Stillstand erkenne ich hier gar nichts.