laut.de-Kritik
Klavier, Flöte, Growls - so geht progressiver Death-Folk.
Review von Manuel BergerDas ist doch kein Metal mehr! Nein, ist es bisweilen wirklich nicht, was Amorphis auf ihrem zwölften Longplayer veranstalten. Nichtsdestotrotz liefern die Finnen mit "Under The Red Cloud" ihr bestes Album seit Langem ab – wenn nicht gar das beste ihrer Karriere. Und vielleicht noch wichtiger: "Under The Red Cloud" könnte alte und neue Fans vereinen.
Beginnen wir mit dem Verhältnis zum unmittelbaren Vorgänger. Im Vergleich zu "Circle", kommt "Under The Red Cloud" luftiger daher, melodischer, sanfter. Alles Attribute, die die Old School gerne an der Joutsen-Ära bemäkelt. Es gibt Frauengesang ("White Night"), die Flöte legt sich ins Zeug, einige Refrains fallen sehr hausfrauenfreundlich aus.
Auf der anderen Seite lässt die Band die alten Tage wieder aufleben. Sowohl die Instrumentalmannschaft als auch Tomi Joutsen können nach wie vor ziemlich brutal werden. Die kürzlich absolvierte "Tales From The Thousand Lakes"-Jubiläumstour, auf der sie fast ausschließlich den rauen Anfangstagen Tribut zollten, tat den Musikern offenbar gut. "Under The Red Cloud" hat keine Songs, die ausschließlich wurzelfokussiert zu Werke gehen und ebenso kaum welche, die sich auf die ruhigere Schiene konzentriert. Von zwei verschiedenen Ausprägungen Amorphis' kann auf "Under The Red Cloud" keine Rede mehr sein. Wie nie zuvor gelingt es der Band, all ihre Facetten untrennbar miteinander zu verbinden.
So passiert es, dass "Enemy At The Gates", der wohl heavieste Song der Platte, mit jazzigem Keyboardsolo und sinnlich-erhabenem Strophengesang aufwartet. Black Metal-Anleihen münden in "The Four Wise Ones" in einen ätherischen Harmonie-Pfuhl. Oder "Dark Path": Hier reiht sich ein liebliches Klavier an den Black Metal. Diesen straighten Track hätte man am ehesten auch auf "Circle" unterbringen können. Ließe man die Clean- und Klavier-Passagen weg, wären wir in den Neunzigern.
Sind wir aber nicht. 2015 greift wirklich alles, was Amorphis in ihre Songs packen, wie selbstverständlich ineinander. Ab und zu schrammen sie auch knapp am Kitsch vorbei – aber eben nur daran vorbei. So wähnt man sich dank unbeschwerten Akkorden und Chrigel Glanzmanns (Eluveitie) Geflötel in "Tree Of Ages" schon auf dem Mittelaltermarkt. Amorphis verwandeln den Song statt in Jahrmarktgedudel jedoch in eine Heavy Rotation-taugliche Hymne. Typisches Amorphis-Galopp, schönes Solo, am Ende glänzt der doppelbesetzte Tomi Joutsen im Growl-/Clean-Duett.
Überhaupt Tomi Joutsen – der Mann hat seinen eigenen Absatz verdient. Da können Esa Holopainen und Tomi Koivusaari noch so toll riffen und Melodien schreiben, ohne ihren Sänger wäre "Under The Red Cloud" nur halb so gut. Holopainens Melodien mögen schon länger legendär sein, Tomi Joutsens sind es spätestens nach diesem Album. Refrains wie bei "The Skull" oder "Death Of A King" sollte man einfach gehört haben. Dazu kommen Strophen wie im bereits angesprochenen "Enemy At The Gates" und wiederum Momente, in denen Vocals und Gitarren sich hervorragend abwechseln ("Bad Blood").
Was den ein oder anderen freuen wird: Joutsen grunzt überdurchschnittlich viel. In erster Linie sind es zwar die Cleans, die hängen bleiben. Doch selbst in vermeintlich soften Songs wie "Tree Of Ages", besteht der Vocal-Großteil aus Growls. Eine Kunst, dort genug Melodie und Feingefühl einzuweben, um das Stück nicht zu zerbrechen. Besonderes Highlight in dieser Hinsicht: "Death Of A King". Flöte plus Growls hört man nicht alle Tage. Nicht nur deshalb stellt "Death Of A King" den absoluten Höhepunkt der Scheibe dar. Nach kurzem Orient-Folk-Intro knallt ein unwiderstehliches Riff herein. Den Chrous sprach ich bereits an. Außerdem sorgt Martin Lopez (Ex-Opeth) für Percussion. Schlagzeuger Jan Rechberger befindet sich in Höchstform.
In der Vielschichtigkeit von "Death Of A King" sowie im Closer "White Night", worin sich ein feines Delay-Interlude findet, spiegelt sich im Übrigen die einmal mehr makellose Produktionsarbeit Jens Bogrens bestens wider. Mit einem weiteren Kunden der Fascination Street Studios lassen sich Amorphis diesmal recht gut vergleichen: Moonspell. Die Portugiesen agierten zwar auf "Extinct" deutlich metalfokussierter als Amorphis das auf "Under The Red Cloud" tun. Die Symbiose unterschiedlicher Stile, das Verarbeiten orientalisch anmutender Harmonien, die stimmliche Erhabenheit und auch der Mut zu Experimenten gestalten sich in der Herangehensweise durchaus ähnlich.
Amorphis und Moonspell dürften auch am Ende des Jahres in den Bilanzen dicht beieinander liegen. Bereits mit den ersten Klaviertönen des Titeltracks stellt "Under The Red Cloud" seine Klasse unter Beweis und behält sie im Folgenden bei. Zu keinem Zeitpunkt hat man das Gefühl, Amorphis würden schon einmal Dagewesenes neu aufkochen. Sie klingen frisch, sie klingen befreit, sie klingen zeitlos. Sämtliche Vorwürfe, denen sich das Sextett in den letzten Jahren ausgesetzt sah, dürften hieran zerschellen. "Under The Red Cloud" ist weder beliebig noch soft und am allerwenigsten langweilig. Angesichts dieses Ergebnisses bleibt nur ein Schlusswort in Richtung der Band: Alles richtig gemacht!
3 Kommentare mit 2 Antworten
Die Tour tat ihnen gut? Das Album wurde vor der Tour aufgenommen.
So viel ich weiß fand das Recording im Frühling 2015 statt. Die "Tales..."-Tour im Winter 2014.
Stimmt. Dann nehme ich alles zurück. Ich hatte nur die paar Sommer 2015 Festival-Dates im Kopf. Ändert ohnehin nix, denn mit einem hat der Manuel schon recht: Geile Platte
Endlich mal ein vernünftig produziertes Album - auf den letzten Scheiben sind die einzelnen Instrumente immer total im Soundbrei untergegangen, weil alles gleichlaut gemischt war (Gruß vom Loudness-War).
Ich warte ja noch drauf - jetzt bestimmt vergeblich - dass Amorphis wieder Richtung Tuonela oder Am Universum gehen ... für mich zwei absolute Knaller-Alben.